Eine ehemalige Polizeipsychologin, die einen Cold Case aufrollt. Eine Patientin in einer toxischen Beziehung. Ein ungeklärtes Verbrechen und viele düstere Verstrickungen. Das sind die Zutaten für einen Erstling, der kein Erstling ist. Nachdem sie als Marie Lacrosse mehr als ein halbes Dutzend Spiegel-Bestseller vorgelegt hat, taucht sie nun mit psychologischer Spannung auf: Tessa Duncan legt mit „Wer das Vergessen stört“ (dtv) den ersten Band ihrer „Canterbury-Fälle“ vor. Anlass für Fragen:
BuchMarkt: Tessa Duncan, Sie sind mit historischen Stoffen eine vielfache Bestsellerautorin. Mit Wer das Vergessen stört begeben Sie sich auf ein völlig neues Feld. Wie kommt’s?
Tessa Duncan: Zum einen hatte ich nach sehr vielen und rechercheintensiven historischen Romanen einmal Lust, etwas ganz anderes zu machen. Zum anderen ist dieses Genre nicht völlig neu für mich: mein erster, zugegebenermaßen noch sehr amateurhaft geschriebener Roman „Kinderjäger“ aus dem Jahr 2008 war in diesem Genre angesiedelt. Er erschien als Regiokrimi unter dem Pseudonym Mara Blum mit einer Auflage von 1000 Stück in meiner Heimatstadt Trier in dem Verlag, den damals Arno Strobel mitgegründet hat, um seinen ersten Roman zu veröffentlichen.
Mit diesem Spannungsroman wird offenbar eine neue Reihe begründet: Die Canterbury-Fälle. Was ist das besondere Kennzeichen dieser Stoffe?
Das besondere Kennzeichen dieser Stoffe ist, dass sie alle mehr oder weniger stark von wahren Verbrechen inspiriert sind. Mein Anspruch ist, diese Verbrechen aus psychologischer Warte zu beleuchten, sowohl die Opfer als auch die Täter und ihr Verhalten.
Woher kommt es eigentlich, dass uns True Crime-Stories so faszinieren? Was sagt das über uns als Leserinnen und Leser?
Ich glaube, dass das Böse Menschen seit jeher fasziniert hat. Bei der Beschäftigung damit kann man sich als Leserin oder Leser einerseits aus der Position des Außenstehenden davon distanzieren, auf der anderen Seite erfüllen gerade wahre Verbrechen ein Stück das Bedürfnis der in uns allen schlummernden Sensationslust.
Sie selbst sind ja promovierte Psychologin und haben klinische Psychologie studiert und als Psychotherapeutin gearbeitet. Wieviel Tessa Duncan steckt in Ihrer Heldin Lily Brown?
In meiner Heldin Lily Brown steckt mehr von mir als in jeder meiner anderen weiblichen Hauptfiguren. Ich habe zwar in jedem meiner Romane den Anspruch, Charaktere und Handlungsweisen psychologisch korrekt darzustellen. Aber bei der Beschäftigung mit historischen Persönlichkeiten und in historischen Kontexten sind mir da gewisse Grenzen gesetzt. Dabei kann ich oft nur beschreiben oder verdeutlichen, aber wenig fiktiv psychologisch plausibel konstruieren.
Lily Brown kann ich dagegen sowohl mit meinen eigenen Kompetenzen als Psychologin und Psychotherapeutin ausstatten, als auch sogar mein forensisches Wissen einbringen, das ich in früheren Jahren als Gutachterin von Opfern und Tätern erworben habe.
Lily hat auch charakterlich einige meiner eigenen Stärken und Schwächen. Mein Anspruch ist es dabei, den Leserinnen und Lesern zu verdeutlichen, dass wir Psychologen keineswegs die perfekten Menschen sind. Im Gegenteil können wir das, was wir unseren Patienten oft so erfolgreich vermitteln, manchmal gar nicht so gut umsetzen, wenn es um unsere eigenen Belange geht.
In „Wer das Vergessen stört“ greifen Sie gleich ein ganzes Bündel an menschlichen Abgründen auf: von toxischen Beziehungen über Gewalt in der Ehe, Panikattacken, Kindheitstraumata bis hin zu Selbstmord oder eben Mord … Ist das nicht ein bisschen dick aufgetragen?
Leider gehören diese menschlichen Abgründe zum Alltag in Psychotherapie-Praxen. Ich habe mich gerade mit den neuesten Zahlen von häuslicher Gewalt beschäftigt, sie sind absolut deprimierend. Fälle von körperlicher und psychischer Gewalt gerade in Partnerschaften steigen seit Jahren an, zuletzt um 9,1 Prozent von 2021 auf 2022. Dabei geht das Bundeskriminalamt nach wie vor von einer hohen Dunkelziffer aus.
Das Thema Trauma gerät ebenfalls erst in jüngerer Zeit stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Das sogenannte Posttraumatische Belastungssyndrom spielte in meinem Studium vor ca. 40 Jahren noch überhaupt keine Rolle. Heute gibt es sogar schon Kliniken, die sich auf die Behandlung der Phänomene spezialisiert haben, die ich in meinem Buch schildere.
Insofern bildet mein Roman in dieser Hinsicht mehr die Realität als die Fiktion ab, wenn natürlich auch die genauen Zusammenhänge und Personen fiktional sind. Nicht aber ihr Verhalten als Trauma-Opfer oder Opfer häuslicher Gewalt.
Der echte Fall, der dem Trauma meiner Protagonistin Vera Osmond zugrunde liegt, ist zudem so krass, dass ich ihn mir so nie hätte ausdenken können bzw. das gar nicht gewagt hätte. Insofern toppt die Realität sehr häufig die Fiktion. Das kenne ich übrigens auch schon aus meinen Recherchen für historische Stoffe.
Mit Canterbury haben Sie sich ein eher idyllisches Örtchen für Ihre düsteren Geschichten ausgesucht. Waren Sie mal da? Und kommt so viel Schreckliches wirklich an solchen Orten vor?
Gerade in Canterbury fand das spektakulärste Verbrechen des Mittelalters statt, der Mord an dem Erzbischof Thomas Becket im Jahr 1070 auf den Stufen des Altars der Canterbury Cathedral durch Ritter des damaligen Königs Henry II. Auch der sogenannte Witch Ducking Stool ist noch heute zu sehen: das ist ein Holzstuhl an einem beweglichen Balken, auf dem man vermeintliche Hexen festband, um sie danach in den River Stour zu tauchen. Ertranken sie dabei, galten sie als unschuldig. Überlebten sie, wurden sie als Hexen verbrannt, da ihnen ja nur der Teufel dabei geholfen haben konnte. Auch Kindsmörderinnen, zu denen auch Frauen zählten, die ihre Ungeborenen in ihrer Not abtrieben, wurden in früheren Zeiten auf diese Weise hingerichtet.
Aber nicht wegen dieser schaurigen Episoden aus der Geschichte der Stadt habe ich mir Canterbury ausgesucht. Ich kannte die Stadt und ihre umfangreiche Historie mit vielen erhaltenen Gebäuden aus dem Mittelalter und sogar früheren Zeiten schon von meiner ersten Reise nach Südengland. Im letzten Jahr habe ich dann einen großen Teil meines Sommerurlaubs dort verbracht und noch weitere historische Stätten entdeckt, die ich bis dahin nicht kannte. Dabei entstand die Idee, in jeden meiner Romane auch ein Fitzelchen Historie einzubauen. In Form kleiner Anekdoten, unter Beschreibung immer wieder neuer historischer Schauplätze.
Zudem musste ich mir einen Standort für Lilys Praxis aussuchen, der in der Nähe von London liegt. Denn ganz ohne die Hilfe des Profilers Dan Baker, der bei Scotland Yard arbeitet, könnte Lily die Cold Cases nicht lösen, auf die sie während ihrer Psychotherapien stößt.
Ich nehme an, wir dürfen schon bald mit einem neuen Fall für Lily Brown rechnen?
Band 2 ist fast schon fertig. Er hat jedoch zwei völlig andere psychologische Phänomene zum Inhalt als Band 1. Auch Lily muss teilweise anders agieren, um sie aufzudecken und die damit verbundenen Cold Cases erfolgreich zu lösen.
Natürlich wurden auch die in diesem Band beschriebenen Verbrechen von True Crimes inspiriert, auf die ich während meiner Recherchen gestoßen bin. Deshalb sind die Inhalte nicht weniger abgründig als in Band 1.