Auf dem Stadtschreiberfest am 30. August erhielt Anja Kampmann als 46. Amtsinhaberin den Schlüssel zum Stadtschreiberhaus in Bergen. Gestern Abend begeisterte die Autorin mit ihrer Antrittslesung in der Nikolauskapelle von Frankfurt Bergen-Enkheim die zahlreichen Zuhörer.
Ortsvorsteherin und Stadtschreiberjury-Vorsitzende Renate Müller-Friese stellte die Schriftstellerin vor. Anja Kampmann wurde 1983 in Hamburg geboren und studierte sowohl in ihrer Heimatstadt als auch am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie veröffentlichte in Zeitschriften und erhielt bereits einige Preise.
2016 erschien ihr Lyrikband Proben von Stein und Licht in der Edition Lyrik Kabinett des Carl Hanser Verlags, 2018 im gleichen Verlag ihr Romandebüt Wie hoch die Wasser steigen.
Müller-Friese wollte zunächst wissen, wie Kampmann die Mitteilung über die Auszeichnung als Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim aufgenommen hatte. „Ich war gerade in Eile und musste zum Zug. Deshalb habe ich die Mail nur flüchtig gelesen. In der Bahn habe ich mich beim genauen Hinsehen gefreut und gewundert, dass die Nachricht um 2.30 Uhr abgeschickt wurde“, sagte die Autorin. „Jurysitzungen dauern manchmal lang“, bemerkte Müller-Friese dazu.
Was erwartet die Amtsinhaberin von den Bürgern in Bergen? Kampmann überlegte nur kurz: „Ein Schwätzchen“, sagte sie.
Wann sie zum ersten Mal bewusst geschrieben habe, könne sie nicht genau sagen. „Aber als ich die Mappe für das Literaturinstitut in Leipzig zusammenstellte, habe ich mir schon überlegt, womit ich sie fülle“, äußerte die junge Frau. In diesem Jahr hat sie an Lyrikfestivals in Mazedonien und gerade im September in der Schweiz teilgenommen. Was ist das Besondere an solchen Festen? „John Burnside, den ich schon lange lese, habe ich in der Schweiz getroffen. Es ist schön, Leuten zu begegnen und sich auszutauschen“, antwortete Kampmann.
Dann las sie Gedichte aus Proben von Stein und Licht. Ihr Vortrag glich einem säuselnden Fluss, der unmerklich das Publikum in seinen Bann zog. Kampmanns Worte waren wie Wellen, sanft und plötzlich akzentuiert, verharrend für einen Augenblick.
Dann leitete Müller-Friese zum Roman Wie hoch die Wasser steigen über. Warum hat sich Kampmann von der Lyrik der Prosa zugewandt? „Erzählende Texte habe ich schon immer geschrieben. Am Roman habe ich fünf Jahre gearbeitet. Ich hatte einfach das Gefühl, Zeit zu brauchen. Der Eindruck, dass der Roman nach der Lyrik kam, stimmt also nicht so ganz“, erläuterte die Autorin.
Im Mittelpunkt des Buches steht Wenzel Groszak, Ölbohrarbeiter auf eine Plattform im Meer. „Mich haben Ölbohrplattformen fasziniert, ich habe während meines USA-Stipendiums viel mit Leuten, die auf so einer Plattform arbeiteten, gesprochen. Aber es ist eine geschlossene Welt, man kommt nicht hinein. Ich habe lange versucht, mehr Details zu erfahren, vergeblich“, äußerte Kampmann. Die Autorin hat gut über Arbeitsweise und Technik einer Ölbohrplattform und das Leben auf so einer Insel recherchiert – das wird von Kritikern und Kollegen gelobt.
Waclaw, eine fiktive Gestalt mit vielen Ecken und Kanten, nahm beim Schreiben immer mehr Raum ein, war eine gute Projektionsfläche. Aber: „Ich würde ihn nicht unbedingt gerne tatsächlich kennenlernen wollen“, verriet Kampmann. Sie las eine Passage vor; es geht um eine Sturmnacht vor Marokko, in der Mátyás, mit dem Waclaw seit sechs Jahren die Kabine auf der Plattform teilt, verschwindet. Ist die Arbeit auf dem Meer wirklich gut verdientes Geld, wie alle denken?
„Heimat ist ein zentrales Thema des Buches. Warum?“, fragte Müller-Friese nach. „Waclaw hat keinen Weg zurück mehr. Mich hat interessiert, wie so ein Leben sein kann. Er kommt ursprünglich aus Polen, aber da gehört er auch nicht mehr hin. Er befreundet sich mit dem Ungarn Mátyás und begibt sich auf die Suche. Es geht darum, wie man es schafft, einem Ort oder Menschen eine Bedeutung zu geben, die bleibt“, antwortete die Autorin und fügte hinzu: „Freiheit sinnvoll zu gestalten, ist schwierig.“
Waclaw hat die Ölbohrplattform schließlich hinter sich gelassen, fährt in Mátyás’ Heimat. Nach dem verschwundenen Mann sucht keiner. Der Protagonist Waclaw jedoch sitzt in Budapest auf dem Schemel in einer kleinen Maßschneiderei, lässt sich einen Anzug anmessen. „Der Anzug ist wie ein Rahmen“, erklärte Kampmann. Es folgen noch zwei weitere Kapitel – das Publikum hörte gerne zu.
„Clemens Meyer, Ihr Vorgänger, hat gesagt, er schreibt am liebsten bei einem Glas Rotwein. Und wie arbeiten Sie?“, fragte Renate Müller-Friese zum Abschluss. Anja Kampmann hob das Wasserglas: „Damit. Ich schreibe am liebsten nachts.“
Eine gelungene Antrittslesung, nach der man auf weitere Begegnungen mit der 46. Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim gespannt sein darf. Gerne signierte die Autorin im Anschluss ihre Bücher, die von Anna Doepfner und Kathrin Diederichs von Bergen erlesen im Foyer angeboten wurden.
JF