Thomas Böhm: Über das Lesetempo / Wünschen Sie sich eine Weihnachtskolumne!

Wie wollen Sie all die Bücher, die Sie zu Weihnachten geschenkt bekommen oder die Sie aus den Frühjahrsprogrammen noch nicht gelesen haben, eigentlich noch lesen? Schneller werden beim Lesen – das wäre was. Unser Kolumnist hat es versucht.

Neulich wurde mir beim Lesen schwindelig, als ich nämlich in einem Buch mit dem Titel „Schneller Lesen“ erfuhr, daß – halten Sie sich bitte fest – unser Auge nicht Zeile für Zeile durch Texte geht, sondern ständig auf der ganzen Buchseite herumspringt und sie auf diese Weise optisch wahrnimmt. Der Zeilenumbruch findet erst im Gehirn statt. Weil dem so ist, kann man mit entsprechendem Training das Lesetempo erhöhen.

Wenn Sie darüber genaueres wissen möchten, schauen sie in einem schnellen Medium nach, ich schalte einen Gang herunter zu der Frage: Warum will ich überhaupt schneller lesen?

Zunächst natürlich, damit man an den 25.000 Lesetagen des durchschnittlichen Menschenlebens ein bißchen was schafft. Für Kolumnenschreibende und wirkliche Literaturschaffende ist Belesenheit zudem ihr Kapital, zumindest ihre Rechtfertigung. Denn wo der sogenannte „ehrliche Arbeiter“ sich den Rücken krumm macht, sich der Niederschlag seiner Arbeit also am Körper ablesen lassen, hinterläßt die Musenmaloche bestenfalls ihre Spuren im Kopf, wo sie nicht zu sehen sind. Deshalb das stete Mißtrauen gegen Dichter, Lehrer und andere Vielleser, die ihr Steckenpferd an den Lebenszirkus verkauft, oder, wie man so leichthin sagt: ihr Hobby zum Beruf gemacht haben. Dieses Mißtrauen äußert sich am liebsten in der vor den heimischen, stets überquellenden Bücherregalen geäußerten Frage: „Haben Sie die alle gelesen?“ Als mein Literaturprofessor dies von einem Möbelpacker gefragt wurde, sagte er augenblicklich: „Das ist nur ein Drittel.“ Womit bewiesen wäre, daß es nicht auf das Lesetempo ankommt, sondern auf die Geschwindigkeit, mit der das Gelesene in Antworten, Ideen und neue Gedanken umgesetzt wird. Dazu kann jedoch ein Buch, das sich schnell lesen läßt, das kein Innehalten und kein Nachdenken verlangt, nicht das richtige Training sein. Deshalb: Wollen Sie auf den Literaturolymp, lesen sie nicht schneller, sondern in ihrem eigenen Tempo. Gerne Höheres. Und das immer weiter.

Thomas Böhm, geb. 1968 in Oberhausen, ist Programmleiter des Literaturhauses Köln. Seine Kolumne „Zum Umgang mit Büchern“ erscheint an dieser Stelle und im weltweit ausgestrahlten Radioprogramm der Deutschen Welle.

Zu Weihnachten möchte Thomas Böhm seinen Lesern eine Kolumne schenken. Wünschen Sie sich ein Thema, das wir dann am 22. Dezember online stellen.

Kontakt: literaturhaus-koeln@gmx.de

Um im Archiv alle Folgen dieser Kolumne aufzurufen, geben Sie als Suchwort bitte „boehmkolumne“ ein.

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