Jetzt hier jeden Werktag neu die Plattform für "Bücher, die Buchhändler und Leser bereichern" „Der Stotterer“ von Charles Lewinsky – ein neuer Dürrenmatt?

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Der Stotterer von Charles Lewinsky ist eine Gaunerkomödie. Ein Meisterwerk komischer Erzählkunst und Fundgrube des Lachens mit Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung für Leserinnen und Leser … Der Stotterer  könnte, wie Friedrich Dürrenmatts Werke, zu einem Klassiker werden.

Wie immer, wenn es in der Literatur echt komisch zu werden beginnt,  ist die Lage ernst, aber nicht völlig hoffnungslos. Johannes Hosea Stärckle ist im Knast. Er hatte sich bei einer einsamen reichen alten Witwe – mit sehnsüchtig liebevollen Briefen aus der Ferne –  als bedürftiger verlorener (Enkel-) Sohn einzuspielen gesucht,  war von der Seniorin unter Mithilfe gewitzter Ermittler ausgefuchst und von einem Richter mit klaren Vorstellungen von Recht und Sitte zu der höchstmöglichen Strafe von sieben Jahren Haft verurteilt worden – „um ein Exempel zu statuieren“.

Diesem Johannes Hosea Stärckle kommt im Knast der „Padre“ zu Hilfe – ein Geistlicher, der an „das Buch“ und an die Kultur und Kraft des Lesens zur Besserung des Menschen glaubt. Mit diesem Ziel vor Augen hatte er die Öffentlichkeit aufgerufen, durch Bücherspenden die  Einrichtung einer entsprechenden  Gefängnisbücherei zu ermöglichen. Die vakant gewordene Stelle des Bibliothekars vergibt der Padre an den belesenen, literarisch interessierten Johannes Hosea: gegen die Zusage eines umfassenden schriftlichen Eingeständnisses seiner Verfehlungen mitsamt Hintergründen als  erstem Schritt zu einem neuen Lebenswandel.

Stärckles „Bekenntnisse“ in seinen Expostulaten an den Seelsorger fallen musterhaft aus. Sie rühren ans Herz. Sie wirken überzeugend. Die Verhältnisse, unter denen er sich zur Abkehr vom alten Lebensweg bewegen soll, sind freilich gar nicht so, wie sie eigentlich sein müssten. Die Bibliothek  – keineswegs ein Sortiment sorgsam ausgesuchter  Werke zur Charakter- und Weiterbildung oder schönen Unterhaltung der Häftlinge – ist ein wahlloses Durcheinander aus allem, was mit den Spendenpaketen eben hereinkommt. Und die sonst übliche Prüfung ihres Inhalts durch die Posteingangsstelle der JVA entfällt, weil sie ja an den schon von Amtswegen vertrauenswürdigen Anstaltspfarrer persönlich adressiert sind. Der gutmenschliche „Padre“, der zur Kontrolle solcher Einsendungen verpflichtet wäre, nimmt seine Pflicht jedoch nicht wahr. Er leitet sie, ungeöffnet, direkt an den Bibliothekar weiter.

Das Buch als Droge

Es kommt zur folgenschweren Verkettung der Umstände. Unterm Deckmantel der Bücherlieferungen hat nämlich eine Gruppe inhaftierter Schwerverbrecher ein perfektes Schmuggelsystem aufgezogen. Der Bibliothekar befindet sich bald im Zentrum finsterer Vorgänge. Er kommt dahinter, dass zu den Dingen, die in „ausgehöhlten Büchern“ eingeschleust werden, auch Drogen gehören. Ein Mithäftling, der zur Gang gehört – „der „Advokat“ – droht mit bösen Konsequenzen, falls er den unter seinem Vorgänger etablierten Schmuggelweg stören oder gar verraten würde. So wird also der Bibliothekar der Beihilfe zum Drogenhandel schuldig und Rädchen im Räderwerk des organisierten Verbrechens. Johannes Hosea Stärckle, der dem Padre gegenüber Transparenz über seine Vergangenheit und eine moralische Wende versprochen hat, wird mit seinen Schreibkünsten gleichzeitig dem brutalen, infamen, mörderischen Drogen-Boss zu Diensten sein.

Aber hat er denn eine andere Wahl? Er tut es doch aus Not. (So wie er auch diesen Vertrauensbruch, aus Angst um sein Leben,  dem arglosen Padre verheimlicht.) Und er war ja schon immer arm dran. Einer, dem von Kindesbeinen an übel mitgespielt wurde. Von dem sektiererischen strengen Vater, der den Sohn missbrauchte und züchtigte. Vom heuchlerischen Sektenprediger, der ihn wie andere Schäfchen seiner Gemeinde gnadenlos terrorisierte. Er war „der Stotterer“, den alle verachteten und verlachten, weil er keinen Satz zu Ende bringen konnte, ohne über die eigene Zunge zu stolpern. Der schwächliche Schüler, der unter den Klassenkameraden bloß geduldet war, weil er sich für sie unentbehrlich zu machen verstand – mit dem einzigen Talent, das er hat.

Rettung durch Schreiben und Lesen

Es bestand darin, dass er eine  für sein Alter unglaubliche Beherrschung der deutschen Sprache auf dem Papier bewies. Und die Fähigkeit, sich chamäleonartig der Mentalität, dem Niveau und der Gemütslage anderer in Ausdruck und Stil anzugleichen. So mogelte er denn bei den Deutschaufsätzen die halbe Klasse durch die Schuljahre. So lockte er, mit fingierten Briefen, einen, der ihn Tag für Tag grausam demütigte, in eine Falle, die den Machtprotz öffentlich sexuell bloßstellte und ein für allemal als Lachnummer erledigte.

Und was hatte er denn auf seiner Suche nach einem Brotberuf an Alternativen, als er nach dem Abitur unter den Verwünschungen des Vaters mit leeren Taschen aus dem Elternhaus flüchtete? Um die Miete zahlen zu können, hätte er selbst für einen mies bezahlten Job bei Call Centern oder als Bierschlepper wenigstens einen Satz zu Ende bringen müssen, ohne bei jeder zweiten Silbe ins Stottern zu kommen. Und wie hätte er seinen Job bei einer der ersten Dating-Websites denn halten sollen, damals, als  weibliche Singles für so was noch Mangelware waren? Blieb ihm denn anderes übrig,  als für das Hin und Her der Text-Botschaften immer wieder von neuem sich selbst als weibliches Individuum zu erfinden und zu präsentieren, um individuelle Partnerinnen-Träume männlicher Kunden erfüllen zu können?

Genial wie Thomas Manns Hochstapler Felix Krull

-Was Johannes Hosea Stärckle in seinen brieflichen Erzählungen dem Padre schildert, wirkt wie die  Umsetzung literarischer Hochkomik in die Gegenwart digitaler Fake-News – wie die Transplantation einer Gesellschafts- und Vagabundenkomödie aus der Belle Epoque in die Welt der Websites und Social Media. Und in seinen Tagebuchnotizen offenbart Stärckle tatsächlich, dass er Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull} als seine Bibel hochhält;, dass sein Ideal und Leitstern der Confidence-Trickster Felix Krull ist. Da wird es dann schon urkomisch. Es wird irre komisch, wenn er sich zur Rechtfertigung geradezu infamer Akte – sie reichen bis zur heimtückischen Erdrosselung einer alleinstehenden alten Dame und zur aktiven Mithilfe bei Morden an Quälgeistern – zum Schüler Casanovas  erklärt: Er gibt vor, sich unentwegt neu zu erfinden, um die Wunsch- und Glücksträume anderer zu erfüllen. Und zuguterletzt wird alles zu einer unendlich komisch grotesken Geschichte.

Johannes Hosea Stärcke sieht sich ganz auf der Linie der großen literarischen „Schelme“, die – wie Lazarillo di Tormes und der Simplizissimus –  aus leidenschaftlicher Wahrheitsliebe mit scharfem Blick die Missstände ihrer Zeit auf den kritischen Punkt bringen. Es steigert sein Selbstbewusstsein  Für die Schriftstellerei entscheidet er sich aber  – ein literarischer Treppenwitz, abgrundtiefe Ironie – , weil sie „auch eine Art Hochstapelei ist, nur eben gesellschaftlich anerkannt und nicht strafbar. Der einzige Beruf, in dem man gelobt wird, wenn man gut gelogen hat.“

Und was ist dann mit seinen „Bekenntnissen“? Sie sind ganz mit Blick auf die Wirkung hin verfasst, die er beim Gefängnisgeistlichen erreichen wollte, voyeuristisch aufgezäumte Einlagen  inklusive. Und der Padre, von seinen literarischen Talenten und moralischen Vorsätzen überzeugt, bringt ihn als Schriftsteller auf den Weg, der auch zu einem Verleger führt.

Für das geplante Buch peilt Johannes Hosea jedoch eine völlig andere Leserschaft an. Ein Bestseller soll es werden. Davon  muss er ja leben, wenn er aus der Haft entlassen wird. Deshalb werden für ihn nun die ganz anders gearteten Vorstellungen und Lesebedürfnisse maßgeblich, die ein breites Publikum mit der Autobiographie eines reumütig gewordenen Kriminellen verbindet. Um einem eventuellen Medienskandal vorzubeugen, der die Glaubwürdigkeit und den Marketing- Erfolg des anstehenden Buches gefährden könnte, müssen die ersten „Bekenntnisse“ also entsorgt werden. Es folgt ein weiterer Hochseilakt abgründiger Spitzbüberei. Johannes Hosea Stärckle sucht den Geistlichen – einen protestantischen Pfarrer! – zu verpflichten, die getürkten „Bekenntnisse“ unter das  Beichtgeheimnis zu stellen.

Charles Lewinsky – ein neuer Dürrenmatt

Charles Lewinski zählt zu den bedeutendsten literarischen Autoren unserer Zeit aus der Schweiz. Sein Roman „Der Stotterer“ ist eine originäre Neuverwirklichung des wunderbaren Begriffs von Komik und Komödie, mit dem der große Friedrich Dürrenmatt Generationen von Theaterbesuchern und Lesern die Welt transparent machte und kritisch vorführte. Der Roman ist auch deshalb ein ganz besonderes Geschenk ans Publikum, weil er neben dem puren Vergnügen des Lesens ein Bewusstsein für die  Bedeutung von wahrhaft-künstlerischer, künstlerisch-wahrhafter Literatur weckt – ein notwendiges Vademekum in einer Mainstream-Kultur mit  allzu vielen marktgerecht „authentisch“ gewirkten, als „echt“ propagierten, „autobiographischen“ Titeln und Romanen, die sich auf „wahre Begebenheiten“ berufen. Der Stotterer  könnte, wie Friedrich Dürrenmatts Werke, zu einem Klassiker werden.

Gerhard Beckmann

Werktäglich schreibt hier Gerhard Beckmann über „große Bücher“,  für Ihre Gespräche mit Kunden, die auf der Suche sind nach besonderem und relevantem Lesestoff.  An jedem Werktag (also montags bis Freitags) soll ein neuer Beitrag erscheinen, dazu auch ein zusätzliches  „Buch zum Sonntag“. 

Die Idee dahinter haben wir beim Start der Serie erläutert: Im BuchMarkt und auf buchmarkt.de wollen wir „große Bücher“ klar und deutlich profilieren. Und damit auch die deutschsprachigen Verlage darauf hinweisen, dass Bücher in erster Linie ein durch nichts anderes zu ersetzendes Medium zur Kommunikation mit und unter Menschen und Lesern ist, mit denen unsere Verlage  darum auch wieder so zu kommunizieren lernen müssen, dass diese Bücher von den Menschen und interessierten Lesern überhaupt gefunden werden können, als Orientierungshilfen für Buchhändlerinnen und Buchhändler, insbesondere denen, die im Ladengeschäft „an der Front“ stehen. 

Gestern schrieb Gerhard Beckmann über An den Ufern der Seine von Agnes Poirier (Klett-Cotta)

 

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