Die Kolumne „Benzes besonderes Buch“ des Buchhandelsberaters Helmut Benze war eine Institution im gedruckten BuchMarkt-Heft. Umso mehr freuen wir uns, dass sie ab Juni 2025 eine monatliche digitale Fortsetzung auf buchmarkt.de findet. Die Kolumne bietet sowohl eine Bühne für bestverkäufliche Titel als auch Empfehlungen von Werken, deren Auswahl Helmut Benze trifft.
Zum Start macht er darauf aufmerksam, dass auch aktuelle traurige Anlässe die Gelegenheit bieten auf große Werke zurückzuschauen und diese erneut hervorzuholen. Der Tod S. Salgados habe ihn einige Stunden mit seinen Werken und den BuchMarkt-Empfehlungen ab 2016 verbringen lassen.
„Wie bei vielen grundlegend wesentlichen Werken und deren zeitloser Bedeutung, kann ich meine Empfehlungen nach Jahren, oft sogar nach Jahrzehnten bekräftigen“, schreibt er. Die mehrfache Wiederholung eines Salgado-TV-Portraits anlässlich der Friedenpreisverleihung (2019) habe diese Anregung zusätzlich evoziert. Im Juni 2016 schrieb er zum Werk GENESIS: Beide Quart-Bände sind erlesene Geschenke der Extraklasse, die faszinierende Ansichten, überraschende Einsichten und aufrüttelnde Begegnungen garantieren. Die von Taschen prachtvoll edierten Werke bieten anhaltende Anregungen und ungeahnte Erlebnisse in einer exzellent komponierten Bildergalerie in Buchform. Mit GENESIS lädt Salgado dazu ein, Wunder und Wesen unberührter Natur sowie
(noch) ursprünglich lebender Kulturen anzuschauen und als schützenswerte Einzigartigkeiten zu wertschätzen.
Und zum Werk Exodus berichtete Helmut Benze von einem besonderen Erlebnis: Er wurde in einer Mannheimer Buchhandlung Zeuge einer Geschenksuche für
einen „profunden Kenner der Schwarz-Weiß-Fotografie“ Da die Suchenden den
BM-Autor für einen Buchhändler hielten, fragten sie ihn um Rat. Zunächst hielten
sie das Werk für zu düster und ernsthaft. Auf die Erwiderung, auch nachdenklich
stimmende Geschenke könnten erfreuen und auf den Vorschlag einer Widmung
hin, kauften die ohnehin von Salgados Fotos begeisterten Kund:innen zwei (!)
Exemplare. Die Widmung lautet: Wir schenken Dir eine meisterhafte Fotodokumentation über eines der Schlüsselthemen der Menschheit. Vielleicht wappnet Dich Salgados Werk noch besser gegen Ausflüchte mancher Politiker und bestärkt Deine Haltung gegenüber Flüchtlingen…“ Vorschläge von Widmungsideen haben sich übrigens wiederholt als Kaufimpulse
bewährt!
In der uns heimsuchenden Bilderflut, die Fake und Wahrheit bis zur Unkenntlichkeit vermischt, zeige Salgado, was meisterhafte, von einem einzigartigen Menschen gestaltete Fotokunst ist. Seine unnachahmlich wahrhaftigen, glaubhaften und überwältigenden emotionalen Schwarz-Weiß-Fotografien seien einzigartige Dokumente präziser, oft poetischer Wucht. Damit “erzähle” er Geschichten, die auch Analphabeten verstehen, berühre Menschen vieler Zeiten und Kulturen.
Doch auch eine weitere Empfehlung möchten wir zum Wiederauftakt der Kolumne geben.
Baltasar Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit
Graciáns legendäres Brevier der Verhaltenskunst liegt in einer epochalen Neuübersetzung von Hans Ulrich Gumbrecht bei Reclam vor – eine Faszination kühler Konkretheit, deren Gültigkeit sich Jahrhunderte (!) bewährt hat.
Vor Jahrzehnten fiel mir in einem Göttinger Antiquariat ein bibliophiles Kleinoktav-Büchlein in die Hände, von dessen Autor ich noch nie gehört hatte. Wohl aber vom Übersetzer, Arthur Schopenhauer. Laut einigen Biographen hat den großen Philosophen das 1647 erschienene Original so begeistert, dass er sein Spanisch schnell und gründlich perfektioniert habe, um es zu übersetzen. 1862 erschien diese Übertragung bei F. A. Brockhaus. Diese Ausgabe blieb bis 2020 die kanonische deutsche Fassung. Um so lobenswerter ist der Mut zur vollständig neuen Übersetzung, die Peter Sloterdijk in der ZEIT vom 30. Dezember 2020 berechtigt als „einzigartig“ und „epochal“ rühmte.
Beim ersten Blättern packten mich sofort mehrere der 300 Aphorismen des hochgebildeten, überzeugungsmächtigen Jesuiten Gracián. (Z. B. Aphorismus 280: „Redlich sein. (…) Es gibt ganze Nationen, die zur Schlechtigkeit neigen: von manchen erwartet man immer den Verrat, von anderen die Unbeständigkeit und von anderen den Betrug. Das schlechte Benehmen der anderen sollte nicht zur Nachahmung dienen, sondern zur Vorsicht. Die Gefahr ist, im Angesicht des verderblichen Umgangs die Redlichkeit aufzugeben (…).“ Damals dachte ich sofort an Hitlerdeutschland und an Stalins Imperium. Heute überlasse ich es Ihnen, Parallelen zu ziehen.
Gracián ging es um die Kunst des Umgangs an autoritären, oft despotisch beherrschten Höfen, jedoch auch in Beruf und gesellschaftlichem Alltag.
Vermutlich ahnte er nicht, dass ihm ein zeitlos gültiges Schlüsselwerk gelungen ist, dem heutige Menschen existentielle Orientierung verdanken.
Welchen Nutzen, welche Bereicherung garantiert das Handorakel? Was sagt der Titel aus?
- Mit „Hand“-Orakel“ sind die alltagstaugliche Kompaktheit der Sentenzen und die buchstäbliche Handlichkeit des Werkes gemeint. Die 300 Aphorismen nehmen ca. 160 Seiten ein. Der höchst hilfreiche Anhang mit Kommentar, Erklärungen von Namen und Begriffen, sowie Register beanspruchen ca. 130 Seiten. Das ist angesichts des unerschöpflich vielfältigen Reichtums an Ratschlägen und Denkanstößen in der Tat handlich.
- „Orakel“ wird im Sinne von erwiesener Autorenkompetenz, Erfahrung sowie von glaubhafter Autorität gebraucht.
- Mit „Kunst“ ist hochkarätige Könnerschaft des Autors als auch die Beherzigung der Leser gemeint.
In den vielen Jahrzehnten meiner Lektüre und Nutzung des „Handorakels“ habe ich manche Probleme im privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Miteinander bewältigt, habe Dutzende von Menschen wahrgenommen, denen es ähnlich ergangen ist und weiß überdies von einem Gracián-Kenner, dass er die Nazi-Todeszelle nur dank eigener Seelenstärke und von Gracián gespendetem Zuspruch überstanden hat.
Hans Ulrich Gumbrechts epochale Edition und sein exzellenter Lotsendienst.
- Durch eines meiner Lebensbücher,nämlich Schopenhauers Übertragung eingestimmt und vorbereitet, bin ich Monate vor Abfassung dieser Empfehlung Gumbrecht gefolgt, und könnte nun Seiten mit Zitaten füllen oder einfach nur berichten:
Gracián in Gumbrechtscher Übersetzung und im Geleit seiner Kommentare haben mir eine Fülle von fruchtbaren und gerade in Alltag und Alter anregende Einsichten geschenkt.
Einsichten werden besonders kostbar, wenn sie bestätigen oder bekräftigen, was man als richtig erkannt hat. So Aphorismus 27: „Dem Innen mehr Aufmerksamkeit als dem Außen schenken. Die Vollkommenheit besteht nicht aus Quantität, sondern aus Qualität. Alles besonders Gute war immer wenig und sehr selten; das Viele kommt Geringschätzung gleich. (…) Manche schätzen Bücher nach ihrem Umfang, als ob man schriebe, um die Arme statt den Verstand zu üben (…)“.
Abschließend drei von unzählig vielen Belegen für den Reichtum, den das „Handorakel“ erschließt:
- Aphorismus 165: „Redlich Krieg führen. (…) Hässlich siegen ist kein Sieg sondern Unterwerfung (…).“
- Aphorismus 148: „Die Kunst der Unterhaltung haben.
(…) Um richtig zu liegen, muss man sich dem Gemüt und dem Verstand derer anpassen, die mitreden: man soll nicht den Beckmesser der Wörter geben, den sonst gilt man als Grammatiker; ebenso wenig den Rechnungsprüfer der Sätze (…). Die Sensibilität ist beim Sprechen wichtiger als die Beredsamkeit.“ - Aphorismus 229: „Sein Leben umsichtig einteilen verstehen: (…) Glücklich stimmt gelehrte Abwechselung (…), Bücher machen uns wirklich zu Personen (…).“
Helmut Benze