Bestsellerautor Robert Wringham (Ich bin raus) hat ein neues Buch, das am 27.4.2020 bei Heyne Hardcore erscheint. Es geht darin um Das Gute Leben und die Frage, „wie Sie trotz Ihres öden Jobs glücklich sein können“.
„Da sich mit Corona so einige Parameter geändert haben, haben wir unseren Autor gebeten, uns einen Text darüber zu schreiben, wie sich die Krise auf die Thesen seines Buch auswirken“, so Hardcore-Verleger Markus Naegele. „Und er hat diesen wunderbaren Essay verfasst!“
Wir dürfen diesen Essay an dieser Stelle veröffentlichen:
Das Gute Leben in den Zeiten der Corona-Krise – es ist da, wir müssen nur zugreifen!
(aus dem schottischen Englisch von Robert Brack)
Es ist mal wieder typisch für mich, dass ich mitten in einer weltweiten Pandemie ein Buch veröffentliche. Das passiert mir andauernd. 2001 zum Beispiel wurde ein Theaterstück von mir während der Maul-und-Klauen-Seuche aufgeführt. 2016 sollte mein erster Artikel für den Guardian publiziert werden, und was passierte? Der beschissene Brexit. Ein Tsunami von Nachrichten zu diesem Thema brach über die Medienwelt herein und spülte mein Werk von der Tagesordnung. Seither habe ich nichts mehr vom Guardian gehört.
Das Schlimme an so einer verpassten Chance ist, dass man sich nicht darüber beklagen darf. Wenn man laut zeternd herumläuft und „Mein Artikel! Mein großartiger Artikel!“ schreit, werfen die Leute einem böse Blicke zu und sagen: „Hör mal, Rob, da draußen sterben Menschen, reiß dich mal zusammen!“ Sie haben natürlich recht. Trotzdem bin ich sauer.
In meinem neuen Buch „Das Gute Leben“ geht es darum, wie man sich sein Leben so angenehm wie möglich gestaltet. Es ist eine Abhandlung über das, was die alten Griechen „Eudaimonie“ nannten, und diskutiert die Frage, wie dieses Lebenskonzept in unsere von Lohnarbeit und Konsum geprägte Welt eingebracht werden kann. Ich habe das Buch vor ungefähr einem Jahr beendet – lange vor Covid-19 – und damals fand ich es wichtig. Und heute? Noch viel wichtiger! Ha! Das muss ich wohl erklären.
Ausgangspunkt meiner Abhandlung war eine Liste jener Dinge, die für das Gute Leben essentiell sind. Diese Liste ist der Schlüssel für eine Existenz, die mir erstrebenswert erscheint. Sie ist so knapp gehalten, dass man sie locker auf die Rückseite eines Bierdeckels drucken könnte (in Punktgröße 10,5, aber Vorsicht, die dicke Pappe könnte ihren Drucker in Mitleidenschaft ziehen!). Zur Verwirklichung des Guten Lebens sind folgende Dinge nötig: Gesundheit, Freundschaft, Liebe, ganz viel freie Zeit, intellektuelle Erfüllung, sinnliche Freuden, Wertschätzung der gegenwärtigen Umwelt, eine befriedigende kreative Tätigkeit, die uns mit Stolz erfüllt, und eine saubere und würdige Wohnung.
Das ist alles. Das ist das ganze Geheimnis eines erstrebenswerten Lebens. Ich weiß, das klingt auf den ersten Blick ziemlich banal. Genau das war der Grund, warum ich die Liste meiner Abhandlung vorangestellt habe und nicht am Schluss als Ergebnis präsentiere. Hätte ich den Leser auf eine lange Reise mitgenommen, um ihm am Schluss diese Banalitäten als ultimative Weisheit zu präsentieren, wäre ich jahrelang mit Hate-Mails zugeschüttet worden. Ich weiß sehr wohl, dass die einzelnen Punkte auf den ersten Blick nicht unbedingt sensationell erscheinen. Ja, zugegeben, sie klingen ein wenig wie die Erkenntnisse über die wahre Bedeutung von Weihnachten am Ende eines Hollywood-Films.
Aber bitte erschießen Sie nicht den Überbringer der frohen Botschaft! Es stimmt nämlich alles. Ich habe diese Liste nicht aus schierer Langeweile erstellt, sondern nach vielen Jahren der Recherche. Diese Grundsätze basieren auf jahrhundertealten religiösen, philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie werden in schlauen Büchern über Psychologie, Biologie und Kosmologie abgehandelt. Darüber hinaus entstand diese Liste angesichts meiner Konfrontation mit Krankheit und Tod: Ich arbeitete ein Jahr lang in einer medizinischen Forschungsbibliothek, in der neben Fachzeitschriften zum Thema Onkologie auch handgeschriebene Tagebücher von (oftmals verstorbenen) Krebspatienten aufbewahrt wurden. Darin schreiben sie zum Beispiel: „Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit meinen Freunden verbracht“ oder „Ich hätte nicht so viel Zeit am Arbeitsplatz verschwenden sollen“. Manchmal ist ein Schockerlebnis nötig, um uns wachzurütteln und der Wahrheit ins Auge zu blicken. Man muss eine Weile ohne Arbeit und Konsum und sonstige weltliche Dinge zubringen, um das zu merken. Sie verstehen, worauf ich hinaus will. Die aktuelle Pandemie könnte ein solcher Moment sein. Die Ausgangsbeschränkungen könnte uns die Auszeit schenken, die nötig ist, um alles in einem neuen Licht zu sehen.
Gesundheit, der erste Punkt auf meiner Liste, ist auch das zentrale Thema der aktuellen Krise. Wir alle haben Angst um unsere Gesundheit. Ihr wird allerhöchste Priorität eingeräumt, dabei sollte sie schon die ganze Zeit an oberster Stelle gestanden haben. Was sind wir denn ohne unsere Gesundheit?
Freundschaft ist wichtig für das Gute Leben, weil Einsamkeit einer der vier apokalyptischen Reiter ist. Während der Ausgangsbeschränkungen müssen wir einen Großteil unserer Freundschaften mit Hilfe technischer Geräte aufrechterhalten. Ich spreche inzwischen öfter mit Menschen als in der Zeit davor.
Liebe ist auch ein wichtiger Aspekt, an dem man arbeiten kann, wenn man zusammen mit seinem Partner eingeschlossen ist. Versuchen Sie wirklich zusammen zu sein! Schalten Sie die Nachrichten aus! Sprechen Sie über Ihre Ängste! Wenn die Friseure und Barbiere geschlossen haben, müssen Sie sich gegenseitig die Haare schneiden. Nehmen Sie sich die Zeit für intimes Zusammensein. Hegen und pflegen Sie Ihre Gefühle füreinander.
Jede Menge freie Zeit ist essentiell für das Gute Leben und unter normalen, nicht-pandemischen Verhältnissen ein rares Gut. Arbeit, Konsum und Technologien, die ständig „ping!“ machen, rauben uns die Zeit. Unter den Bedingungen der Ausgangsbeschränkungen können wir unsere Zeit entkolonisieren. Zeit ist ein Geschenk, und nun ist sie endlich im Überfluss vorhanden. Für manche dürfte sich das seltsam anfühlen. Es wird ihnen schwerfallen, diese Zeit auszufüllen. Doch in Wahrheit ist dies die Gelegenheit, auf die wir so lange gewartet haben: Wir verfügen über jede Menge freie, nicht durchgeplante Zeit, wir können die Chance nutzen und lesen, kreativ sein, trainieren, Prioritäten setzen oder ganz einfach überhaupt nichts tun.
Mit intellektueller Erfüllung meine ich die geistige Stimulation. Sie kann absichtlich und zielgerichtet erfolgen oder nicht zweckgebunden und ergebnisoffen (um ihrer selbst willen). Jeder strebt danach, aber wegen unserer zeitraubenden monotonen Jobs kommen wir viel zu selten in diesen Genuss. Es wird Zeit, endlich die Bücher zu lesen, die wir gekauft und seither nie mehr in die Hand genommen haben. Es wird Zeit, unsere Netflix-Liste abzuarbeiten, um anschließend anspruchsvollere Dienste wie zum Beispiel Mubi in Anspruch zu nehmen.
Sinnliche Freuden sind unerlässlich für das gute Leben: Damit meine ich nicht nur Sex, sondern alles, was mit dem Körper zu tun hat und ihm gut tut. Wir können unsere Wahrnehmung trainieren. Zum Beispiel, indem wir uns eine Mahlzeit so richtig schön auf der Zunge zergehen lassen, den Duft, den Geschmack und die Beschaffenheit einer Speise auf uns wirken lassen. Dafür haben wir jetzt endlich genügend Zeit. Niemand drängt oder hetzt uns. Wir dürfen uns ungehemmt darauf einlassen.
Die Wertschätzung der gegenwärtigen Umwelt ist wahrscheinlich der wichtigste Aspekt. Es geht darum, das Beste aus der aktuellen Situation zu machen. Wir finden uns damit ab, dass wir nicht woanders sein können; wir sehnen uns nicht an den Arbeitsplatz, wenn wir zuhause sind und umgekehrt; wir wollen nicht ins Ausland reisen, wenn wir zu Hause sind oder ganz schnell wieder heim, wenn wir woanders sind. Wertschätzen, wo man gerade ist, anstatt ständig auf dem Sprung zu sein, ist eine erstrebenswerte Lebenseinstellung, nicht nur in Zeiten der Ausgangsbeschränkungen.
Einer befriedigenden kreativen Tätigkeit nachzugehen, genau dafür ist die Zeit jetzt reif! Endlich können wir Pinsel und Farbpalette rausholen, das Schlagzeug aufbauen oder den Sprachkurs in den CD-Player einlegen. Aber was hat das alles mit einer sauberen und würdigen Wohnung zu tun? Nun ja, was könnte nützlicher sein, als endlich mal von Grund auf die Wohnung aufzuräumen und zu putzen? Ich habe gestern die Regale in meinem Küchenschrank sauber gewischt (ein Punkt, der auf der To-Do-Liste der meisten Menschen ganz weit unten steht), und es hat wirklich Spaß gemacht.
Ausgangsbeschränkungen sind schwer zu ertragen. Es ist schwierig im konventionellen Sinn aktiv zu sein, wenn wir nicht einkaufen und ins Büro gehen dürfen. Außerdem ist unsere Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigt wegen der Sorge um unsere Lieben in der Ferne oder der Angst vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Aber das steht jenseits unserer Macht. Trotzdem und genau deswegen ist dies der richtige Zeitpunkt, allen Mut zusammenzunehmen und an unseren Projekten für das Gute Leben zu arbeiten. Wir sollten uns auf das Wesentliche konzentrieren, auf das wirklich Wichtige, und es in die Tat umsetzen.
Und wenn dann alles irgendwann vorbei ist, haben wir vielleicht ein paar neue Dinge gelernt und Erfahrungen gemacht, die unsere Lebensgewohnheiten für immer verändert haben.
Ich werde übrigens nicht versuchen, eine neues Buch zu schreiben, das muss echt nicht sein. Das wollte ich noch anmerken für den Fall, dass das Ende der Welt bevorsteht. Vielen Dank für den Wink mit dem Zaunpfahl, Universum!
Robert Wringham lebt als Autor im schottischen Glasgow. Ich bin raus (Heyne Encore, 2016), beschreibt seinen Ausstieg aus der Lohnsklaverei, sein neuestes Buch Das gute Leben (Heyne Hardcore, 2020) legt dar, wie man trotz Bullshit-Job glücklich werden kann.