Andreas Meyer über die Buchindustrie und das Verhältnis zu ihren Lesern Sprechverbot – oder Nachdenken über das „Warum“

Welche Debatten-Kultur herrscht in der Buchbranche, wenn es um das Nachdenken über Leser und Lesen, und – noch gewagter – um die Relevanz der Buchindustrie geht? Darf darüber gesprochen werden?

„Produktfixierung“ und „Irrelevanz des Angebots“ waren kritische Fragen des Podiums: (von rechts) Moderator Arnd Roszinsky-Terjung, Beraterin Stephanie Lange, Sven Vaders (tonies), Karin Burr (MairDumont) und Andreas Meyer (dem Autor dieses Artikels)

Eine Podiums-Veranstaltung auf der Frankfurter Buchmesse,Thema: die Buchindustrie und das Verhältnis zu ihren Lesern. Wer so etwas organisiert, weiß: ein Drahtseilakt. Ist das Thema relevant? Ist es verständlich, nachvollziehbar? Wie wird die Resonanz sein – kommt überhaupt jemand?

Die Veranstaltungs-Titel am Messe-Freitag lautete: Ist Lesen der wahre Luxus? Über die Relevanz der Buchindustrie- und ihr Innovationsproblem.  Ein Phänomen im Vorfeld: Fast alle WunschkandidatInnen sagen ab. Bei Marcus Stahl lief das anders: Der Gründer der „tonies“, des wahrscheinlich erfolgreichsten Start-ups, das bisher „in der Nähe“ der Buchbranche positioniert wurde, sagte spontan zu.  Konnte dann doch nicht – schickte aber mit Sven Vaders hörenswerten, hochkompetenten Ersatz.  Stephanie Mair-Huydts, die Verlegerin von MairDumont, machte es genauso und ließ sich durch Kathrin Burr vertreten. Sie ist die vermutlich einzige Marken-Managerin der Buchbranche, ist für die Führung und die Zielgruppen der Marken Marcopolo, DuMont und Baedecker verantwortlich. Außerdem auf dem Podium: Stephanie Lange, viele Jahre Geschäftsführerin bei Hugendubel und jetzt als Beraterin tätig.

Das Thema „Endkunde und Buchbranche“ beschreibt eine schizophrene Situation: Der Buchmarkt ist stabil, die Stimmung in der Branche jedoch von Angst und Unsicherheit geprägt. Was mag dahinterstecken? Unsere These: Die Branche hegt tiefe Selbstzweifel an ihrer eigenen Relevanz. Erfreulicherweise scheint der Leser ein deutlich positiveres Bild zu haben. Jedoch: Sind wir wirklich nahe genug an ihm dran, um seine Motive zu verstehen?

Wie sieht es in anderen Medienbranchen aus? Paradox ist: Obwohl die Entwicklung bei z.B. Zeitschriften ziemlich miserabel aussieht, ist die Grundstimmung gut. Und es gibt ziemlich viele mutige Innovationen. Warum wirkt die Buchbranche dagegen oft mutlos, ja düster? Worin sich beide Branchen – leider – ähneln, ist die Neigung, Erfolge von Mitbewerbern zu kopieren. Buchhandelsberater Arnd Roszinsky-Terjung nennt die Buchindustrie inzwischen trocken die „Nachahmer-Branche“.

Eine  alte  Frage  ist:  Wie  stark  ist  die Buchbranche Produkt-, wie stark ist sie Leser-getrieben? In einem Gespräch auf der Buchmesse bringt die ehemalige Vertriebsleiterin eines großen Verlages – wir nennen ihren Namen besser nicht – den Status quo aus ihrer Sicht couragiert auf den Punkt: Wir produzieren für den Handel – das verhindert den Blick auf den Endkunden, der kommt letztlich nicht vor.Was ist das Beunruhigende an dieser Aussage? Zunächst: Insights dieser Art werden normalerweise nicht öffentlich geäußert. Es gibt keinen Diskurs zu diesem Thema. Ist Selbstkritik in der Buchbranche nicht gewünscht? Im Vorfeld der Messe sprachen wir mit immer mehr Menschen aus der Branche, die meinten: wichtiges Thema, aber absolutes Glatteis. Ein Verleger wies mich in diesem Kontext auf Karen Köhlers Roman Miroloi – und dessen Rezeption durch die literarische Kritik hin. Er äußerte hohen Respekt gegenüber Hanser-Verleger Jo Lendle, der seiner Meinung nach mit diesem Buch (oder auch mit Stella) genau den Mut bewiesen habe, den Leser honorieren. Aber was hat Miroloi mit unserem Thema zu tun? Die Rezeption. Es waren die (ausschließlich?) Männer des Feuilletons, die dieses Buch vernichtend kritisierten. Das sei, interpretierte der Verleger, weit weg vom Leser-, hier Leserinnen-Standpunkt. Der interessiere nicht. Er komme nicht vor. Apropos: Weibliche Rezensentinnen besprachen dieses Buch genau anders herum, sehr positiv. Und auch bei mir war es eine Buchhändlerin, die es mir begeistert ans Herz legte.

Haben  wir  in  der  Buchindustrie,  lautet die Kernfrage, ein Problem mit dem Perspektivwechsel, die Sicht der Leser einzunehmen? Mit Selbstkritik, mit fehlender Offenheit? Leiden wir unter einer gewissen Hybris? Im Sinne von: Das so stark auf den Handel ausgerichtete System (ein anderer Verleger sprach vom „Thalia-System“) wird schon weiter so funktionieren wie es ist.

Um es klipp und klar zu sagen: Es geht nicht darum, die Zukunft der Buchbranche in düsteren Farben zu malen. Im Gegenteil: Leser finden unsere Branche auf eine bisher in der Branche nicht diskutierte Art und Weise faszinierend: „Es geht“, erklärte mir vor kurzem ein Start-up-Unternehmer, „nicht um den Luxus, ein Buch zu kaufen, sondern um den Luxus sich die Zeit zum Lesen zu nehmen.“

„Sich  Zeit  zum  Lesen  nehmen“  als neues  Distinktionsmerkmal  –  da  geht es nicht um das Produkt, und das sollte nachdenklich machen. Der Buchindustrie geht es gut, weil ihre Produkte (also die Erzeugnisse der Autoren) für eine gute Zeit sorgen, und diese wird von Lesern geliebt. Und sie kaufen Bücher überwiegend stationär: heißt, der Buchhandel als Absatzmittler macht einen ziemlich guten Job. Bei der oben skizzierten Veranstaltung beschrieb Katrin Burr, welche Anstrengungen sie unternimmt, in einen möglichst engen Austausch mit Lesern zu kommen. Und welche begeisternde, motivierende Wirkung diese Begegnungen für die Kollegen aus den Redaktionen haben. Julia Bär, Redakteurin der FAZ, berichtete in einem Online-Beitrag unter der Headline „Selbstkritik der Buchbranche. Es fehlt die Liebe zum Leser“. Ihr erster Satz ist anerkennend: „Es gibt sie doch noch, die offene Selbstkritik in der Buchbranche: Bei einer Diskussion über Relevanz und Innovation wurden haufenweise gute Fragen aufgeworfen.“ Darauf kam von einer Verlegerin (die selbst nicht bei der Veranstaltung anwesend war) per Mail der harsche Vorwurf, die Veranstalter der Podiumsdiskussion hätten die Branche „mit Dreck“ beworfen. Was ist das jetzt? Ein Denk-, ein Kritik-, ein Sprechverbot?

Es führt zur Frage an Sie, die bis hier durchgehalten haben: Wie sehen Sie den selbstkritischen  Diskurs,  wie  das  „Warum“  der  Branche  als  LeserInnen  des BuchMarkt? Bitte schreiben Sie uns unter redaktion@buchmarkt.de. In Teil 2, im Dezember-Heft, berichten wir von den Reaktionen. Und es geht um Chancen: Wir werden Verlage wie Buchhandlungen vorstellen, die Innovations- und Heldentaten in Sachen „Leser-Nähe“ vollbringen.

Über den Autor: Andreas Meyer, VERLAGSCONSULT, organisiert zusammen mit Arnd Roszinsky-Terjung seit 20 Jahren Konferenzen und Diskussionsforen. Beide sehen sich als strategische Zielgruppen-Fanatiker. Gemeinsam sind sie Initiatoren des BUCHMARKTFORUMs und des SALES AWARDs, über lange Jahre waren sie Programmverantwortliche des Libri.Campus. VERLAGSCONSULT wurde 2018 und 2019 von brand eins in die Liste der besten deutschen Unternehmensberatungen aufgenommen.

Lesen Sie den kompletten Artikel auch in unserem Epaper ab Seite 24.

Kommentare (1)
  1. Die me-too-Produkte der Buchindustrie sind Legion. Und in 1 Trend
    mitzuschwimmen, nun ja – non olet! Nur wo der Austausch zwischen BuchhändlerIn & kritischem Käufer/Leser funktioniert – und er funktioniert bei „meinen“ Buchhandlungen im Lande o.a. Übersee – da
    sind die xten Alpenkriminaler/Wikinger/Barbarenschlagetots/Darm-
    heiler/Glücksboten bald Futter für das kritische Gespräch mit Ver-
    treter Verlag Epigon oder fix geschreddert via Wühlkiste. – Jedenfalls ist statt Nabelschau die offene Diskussion zum „Warum“ kein „Dreck“ – NO, my publisher-queen!

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