Danach fragen Kunden Umgeblättert heute: „Dieses Buch sticht aus jeder Regalumgebung heraus durch seine geradezu klassische Eleganz“

Jeden Morgen blättern wir für Sie durch die Feuilletons der führenden Tageszeitungen – damit Sie schnell einen Überblick haben, wenn Kunden ein bestimmtes Buch suchen oder Sie nach einer Idee für einen aktuellen Büchertisch:

 

„Schreib deine eigene Bibel“: Gesagt, getan. Ein literarisches Ereignis ist anzuzeigen: Die Tagebücher von Ralph Waldo Emerson, dem Vordenker des amerikanischen Weltverständnisses, erscheinen zum ersten Mal in größerer Auswahl auf Deutsch. „Dieses Buch ist ein großes Glück. Zunächst einmal rein äußerlich: Halbleinen, Blindprägung, der von Michael ­Ro­senlehner gewählte Einbandkarton ein veritabler Handschmeichler, obwohl man mehr als ein Kilo Gewicht zu halten hat. Dieses Buch sticht aus jeder Regalumgebung heraus durch seine geradezu klassische Eleganz. Und der In­halt? Das erste Aufschlagen nach dem Anstaunen in der Buchhandlung führte zufällig zu einer Seite, in deren Mitte ein Eintrag vom 2. Juni 1833 mit folgenden Worten an­hebt: ‚Ich habe Venedig schnell satt. Es ist eine großartige Kuriosität – eine Stadt für Biber.‘ Mehr braucht es doch gar nicht, um auch per Text für dieses Buch zu begeistern.“

  • Ralph Waldo Emerson, Tagebücher (aus dem amerikanischen Englisch, hrsg. und kommentiert von Jürgen Brôcan; Verlag Matthes & Seitz)

„Verfall einer Idee von Familie“: Manisch sexuell: Thomas Melles lange erwarteter neuer Roman Das leichte Leben handelt vom Scheitern des neobürgerlichen Traums. Das ist enttäuschend konventionell. „Öde ist das alles nicht, eher rasant, lautstark, ungefiltert, obszön, tragisch, hier und da witzig, vor allem aber schmerzironisch, hauptstädtisch mithin irgendwie, aber leider doch auch (da wirkt der selbstreflexive Abwehrzauber nicht) gekünstelt. Kalkuliert. Behauptet. Als wäre ein Plan zu erfüllen gewesen. Alle Figuren, so gegenwartsanalytisch sie sich geben – neben Jan stehen vor allem seine Ehefrau Kathrin, ein zur Lehrerin mutiertes One-Hit-Literaturwunder, sowie der von Kathrin ungehörig begehrte Schüler-Beau Keanu im Fokus –, wirken zusammengesetzt aus urbanen Lifestyle-Klischees.“

  • Thomas Melle, Das leichte Leben. Roman. (Kiepenheuer & Witsch)

„Sdasdada bedeutet wach sein“: Etüden für den Umgang mit Sprache. Angelika Overaths deutsch und rätoromanisch gehaltene Gedichte im Band Schwarzhandel mit dem Himmel/Marchà nair cul azur. „Selbst wenn man irgendwann eine Fremdsprache gut beherrscht, käme man nicht unbedingt auf die Idee, in ihr Gedichte zu verfassen. Noch verwegener ist der Ge­danke, Gedichte in einer Fremdsprache zu schreiben, um diese überhaupt zu lernen. Doch Angelika Overath hat genau das ge­tan: 2007 zog sie ins Unterengadin, wo Vallader, ein Dialekt des Rätoromanischen, an den Schulen Unterrichtssprache ist. Ihr Sohn und ihr Mann, der die örtliche Fußballmannschaft trainiert, schreibt Overath im Vorwort zu Schwarzhandel mit dem Himmel/Marchà nair cul azur, hätten die Sprache schnell gelernt, ihr aber fiel es nicht so leicht. Es waren zu­nächst einzelne Wörter, die ihre Aufmerksamkeit erregten und von denen ausgehend, von ihrem Klang und Rhythmus, sie schließlich erste Gedichte in der fremden Sprache schrieb.“

  • Angelika Overath, Schwarzhandel mit dem Himmel/Marchà nair cul azur (Telegramme Verlag)

„Standhafter Autor“: Als die DDR ihn loswerden wollte, blieb er erst recht. Und für sein gesellschaftliches Engagement opferte er sogar noch im wiedervereinigten Deutschland zehn Jahre lang seine Literatur. Heute wird der Schriftsteller Lutz Rathenow siebzig. „War sein Debüt noch bei Ullstein erschienen und das erste große Nachwende-Buch, der Erzählungsband „Sisyphos“, dann beim Berlin Verlag, fand Rathenow danach vor allem mit seinen Gedichten nicht zu einem der eta­blierten Verlage – wollte es irgendwann auch gar nicht mehr, weil seine Liebe zur kleinen Form sich auch in der Sympathie für die persönliche Betreuung und handwerkliche Sorgfalt bei Pressendruckern zeigte. 2011 sagte er dem Literaturbetrieb freiwillig adieu. Nicht aus mangelndem Erfolg – Rathenow war und ist vor allem als Essayist bei Zeitungen und Zeitschriften hoch geschätzt –, sondern weil er sich in die Pflicht nehmen ließ und in Sachsen Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur wurde. Er blieb es, weit über die üb­liche Altersgrenze hinaus, bis zum vergangenen Jahr. (…) Heute feiert Lutz Rathenow in Berlin, seiner Wahlheimatstadt seit 1977, siebzigsten Geburtstag.“

„Der Prophet“: Ertränkte Ideale: Der 2015 verstorbene Rafael Chirbes war der strengste und sensibelste Kritiker des modernen Spaniens. Nun erscheinen seine Tagebücher – genau zur rechten Zeit. „Nun sind Tagebücher natürlich immer eine selbsttherapeutische Angelegenheit, man teilt mit dem Papier, was man mit anderen Menschen nicht teilen will. Doch Chirbes hat seine Notizen vor seinem Tod 2015 geordnet, redigiert, gekürzt, es lag ihm also an der Veröffentlichung. Vieles kommt darin zum Vorschein, was er in seinen Romanen nur angedeutet hatte, in denen er manchmal selbst als Nebenfigur erkennbar war. Man lernt einen literarischen Universalisten kennen, der seinen inneren Reflexionsraum in einem immensen Lesepensum fand, der sich selbst aber tiefstapelnd als ‚gewöhnlichen Mann, bar jeden Ehrgeizes‘, einstufte, als einen Schriftsteller, der danach trachtet, mit seinem Schreiben ‚den Lärm zu übertönen, den die Ratte der Angst macht, wenn sie in mir herumrennt‘.

  • Rafael Chirbes, Von Zeit zu Zeit. Tagebücher 1984-2005. (Übersetzt von Dagmar Ploetz, Carsten Regling; Verlag Antje Kunstmann)

„Unsere Schuld“:Woran liegt es, dass der Mensch Erde und Klima veränderte, nun aber unfähig ist, die Katastrophe zu verhindern? Pierre Charbonnier hat eine Antwort. „Der großzügige Rückgriff auf wirtschaftshistorische Kontextualisierung, vor allem aber die Fähigkeit Charbonniers, die gesellschaftlichen Weichenstellungen auf den Punkt zu bringen, die sich in den Quellen ausdrücken, machen das Buch dennoch zu einer aufschlussreichen Darstellung jener ‚materiellen Geschichte der Freiheit‘, die dem Autor vorschwebt.“

  • Pierre Charbonnier, Überfluss und Freiheit. Eine ökologische Geschichte der politischen Ideen (aus dem Französischen von Andrea Hemminger; S. Fischer Verlag)

„Was lesen Sie gerade … Eva Geulen“: „Henry David Thoreau, Walden, or, Life in the Woods von 1845. Mir war schon vor Abflug an die Ostküste der USA klar, dass nach einer Woche Sommerschule in New Haven zu Schreib- und Leseszenen (von Quintilian bis Hip-Hop) ein Kontrastprogramm fällig sein würde, das Buch war vorsorglich im Gepäck. Walden Pond liegt außerdem auf dem Weg nach Deer Isle, Maine, wo im Anschluss an die Sommerschule eine Woche Familienurlaub anstand. So ging der Besuch der legendären Stätte der Lektüre voran. Der genius loci blieb aus, aber die Lektüre hält, was ich mir versprochen hatte: Thoreaus Auskünfte über seine Zeit im Wald am See sind nämlich keine romantische Weltflucht. Der Autor macht die Probe aufs Exempel, ob ein Leben der ’simplicity‘ unter modernen Bedingungen möglich ist, in Hörweite der Eisenbahn und nur wenige Kilometer vom städtischen Concorde, Massachusetts entfernt. In meiner Lesebiografie bildet dieser Text ein viel zu lange vernachlässigtes Bindeglied zwischen Goethes Naturforschungen und Stifters Prosa. Vieles findet man bei Thoreau wieder, aber die Bandbreite seiner Tonlagen ist größer. Sinn für zynischen Humor haben weder Stifter noch Goethe.“

„Zu Hilfe“: Börsenverein fordert Streichung der Mehrwertsteuer auf Bücher. „In den ersten acht Monaten dieses Jahres liege der Buchmarkt einschließlich des Online-Handels ein Prozent unter dem Vorjahresergebnis. Im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 betrage das Minus 2,5 Prozent. Bei den Händlern vor Ort habe das Geschäft in den ersten acht Monaten im Vergleich zum gleichen Zeitraum 2019 um 9,5 Prozent nachgegeben.“

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