"Offener Brief zur Rettung der Produktionsbedingungen von Literatur" von Autorin Sabine Lipan „Meine Lagerhalle ist mein Gehirn“

Sabine Lipan (Foto: Richarda Buchholz)

Sabine Lipan, Autorin und Vorsitzende im Vorstand des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Nordrhein-Westfalen (VS NRW), hat einen Offenen Brief zur Soforthilfe für Soloselbständige an die Politik formuliert. Darin protestiert sie dagegen, dass sie als soloselbständige Künstlerin beim Soforthilfe-Programm der Bundesregierung im Prinzip nur jene Kosten geltend machen könne, die aus externen Mieten und Zahlungen bestehen. Der Brief im Wortlaut:

„Ich protestiere.

Ich protestiere, weil ich mich als arbeitende Künstlerin in den Hilfsprogrammen von Land und Bund mit der Art meiner Arbeit nicht wiederfinde und diese Programme für mich wirkungslos sind.

Ich protestiere dagegen, dass ich als soloselbständige Künstlerin beim Soforthilfe-Programm der Bundesregierung im Prinzip nur jene Kosten geltend machen kann, die aus externen Mieten und Zahlungen bestehen.

Meine Arbeit, mein Schaffen findet jedoch nicht in gemieteten Büro- und Lagerräumen statt, sondern in meiner Person, in meinem Körper, in meiner Lebenserfahrung und -umgebung:

Meine Produktionsstätten von Kultur, konkret Literatur, sind:

Kreativwerkstatt – mein Gehirn mit Gedanken und Träumen;

Fertigungshalle– mein Arbeitsplatz im Arbeitszimmer, Wohnzimmer oder Küche;

Maschinenpark– Laptop und der gute alte Schreibblock;

Materialien– Buchstaben, Wörter, Sätze, Abschnitte, Texte;

Lagerhalle– mein Gehirn und mein Gedächtnis mit Texten, Ideen, Formulierungen, Erinnerungen, Anekdoten – und mein Billy im Wohnzimmer für meine gedruckten Bücher zum Verkauf auf Lesungen;

Werkstatt – mein Schul- und Lebenswissen zur Korrektur und Überarbeitung meiner Texte;

Verkaufsräume– mein Mund;

Telefonzentrale– mein Ohr;

Buchhaltung – mein mathematisches Schulwissen gekoppelt mit neu erworbenem Wissen über Einkommensteuer, Umsatzsteuer, Vorsteuer, Vorsteuerpauschalen, Reisekosten etc.;

Marketing– meine stundenlangen Einträge auf Facebook, Instagram, Youtube & Co;

SUV, geleast– habe ich nicht. Dafür mein Fahrrad, das mich zu ortsnahen Lesungen fährt und eine Bahncard, für die Fahrten zu Messen, Verlagen, Lesungen. 

Ich verlange, dass all das dieselbe Wertigkeit und Anerkennung erhält wie extern gemietete Räumlichkeiten, geleaste Autos oder andere Firmeninvestitionen.

Als Künstlerin, die steuer- und sozialversicherungspflichtig ist, die seit zig Jahren ihren Lebensunterhalt erwirtschaftet, auch wenn es nie für angemessene Rücklagen gereicht hat, als professionell Berufstätige erwarte ich, dass ich jetzt nicht in den so groß aufgelegten und angekündigten Sofort-Hilfsprogrammen auf den Status einer Privatperson degradiert werde, die doch bitte dann doch lieber Grundsicherung beantragen soll.

Ich fordere, dass all diese für die Produktion von Kunst und Kultur erforderlichen Arbeitsmittel genauso anerkannt und finanziert werden wie angemietete Lagerhallen, Leasingraten für Firmenfahrzeuge, Büros von Geschäftsführer*innen und Reparaturkosten von Maschinenparks.

Die Regelung, nur externe Rechnungen zu finanzieren, wird uns Kunstschaffenden überhaupt nicht gerecht. Ich fühle mich gekränkt und degradiert: Aus Schriftsteller*innen, aus Solo-Selbständigen werden so einfach wieder Hausmänner und Hausfrauen in einer Bedarfsgemeinschaft gemacht.

Das wollen, können und werden wir uns nicht gefallen lassen!

Wir brauchen fast nie finanzielle Unterstützung für externe Betriebsausgaben, um weiter arbeiten zu können.

Wir brauchen aber jetzt ganz dringend finanzielle Unterstützung, um mit freiem Kopf weiterarbeiten zu können!

Denn das tun wir auch jetzt – weiterarbeiten. Wir sind alles andere als arbeitslos:

  • Wir verbringen Stunden um Stunden im Netz, um unsere Bücher zu bewerben, Online-Lesungen (meist unhonoriert) zu organisieren, um unsere Bücher bekannt zu machen, schreiben, mailen, telefonieren, Newsletter verschicken und jeden Kontakt nutzen, um weiterhin Bücher verkaufen zu können.
  • Wir versuchen, Lesungen für den Herbst zu organisieren – nicht wissend, ob sie dann überhaupt stattfinden werden.
  • Wir korrigieren Texte, die kurz vor der Veröffentlichung stehen.
  • Wir versuchen, bereits verfasste Manuskripte sowie neue Exposés an Verlage zu verkaufen.
  • Wir machen Lektorat, Marketing, Buchführung und vieles mehr.
  • Und vor allem: Wir schreiben weiter. Neue Texte, neue Bücher. Neue Geschichten.

Denn wir wollen nicht, dass der literarische Teil des Kulturlebens nach der Corona-Krise brachliegt.

Wir wollen ihn weiter lebendig halten.

Dafür schreiben wir.

Aus all diesen Gründen wollen und können wir oft auch keine Grundsicherung beantragen.

Wir wollen, dass unser „Betrieb“, d.h. unsere Person, mit einer Mindestunterstützung „am Laufen“ gehalten wird.

Konkret: Wir wollen berechtigt sein, uns von den Sofort-Hilfsprogrammen ein angemessenes „Gehalt“ auszahlen. Kein üppiges, aber orientiert am monatlichen Durchschnittsgewinn des letzten Jahres.

Das wäre fair und hilfreich, auch angesichts anderer weitergezahlter Gehälter.

Alles andere empfinde ich als Beleidigung von Kunst- und Kulturschaffenden.

Und alles andere ist das völlige Ignorieren dessen, was literarisch Tätige für diese Gesellschaft bewirken – jenseits aller konkreten Literatur:

  • auf unseren Schultern stehen 9,18 Milliarden Euro Umsatz im Jahr im Buchbetrieb;
  • 80.000 Kernbeschäftigte in der Buchbranche sind angestellt, weil wir frei und oft für Cent-Beträge an Beteiligung pro Buch das herstellen, was sie anschließend verarbeiten und verkaufen;
  • auf freien Kulturschaffenden insgesamt ohne Betriebskosten stehen 100,5 Milliarden Bruttowertschöpfung;

Frankreich hat ein Paket für Kulturschaffende geschnürt.

Ebenso UK.

Auch Italien hat im März (!) ein Gesetz zur Förderung des Lesens erlassen.

Wo bleibt hier die Unterstützung der freien Kulturschaffenden in unserem Land?

Wer Kunst und Kultur weiter erleben möchte, in Buch, Theater, Netz, auf CD und gedruckt, erworben oder ausgeliehen, im Wohnzimmer, in der Schule, in der Universität – wer all das will, der muss jetzt dafür sorgen, dass sie nicht stirbt.

Es kostet nicht wirklich viel. Das haben wir noch nie: viel gekostet.

Wer reich werden will, wählt garantiert nicht die Laufbahn der freien Kunst.

Es kostet nicht viel.

Aber es ist auch nicht umsonst.

Banken werden gerettet, Fluglinien auch. Für Reisegutscheine werden Bürgschaften übernommen.

Wer die Kultur retten will, muss jetzt dafür sorgen, dass wir überleben können.

Heute. Nicht erst morgen.

Denn dann ist es vermutlich zu spät.“

Sabine Lipan

Vorsitzende Vorstand Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Nordrhein-Westfalen (VS NRW)

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