…sind Fleiß, Chaos und Ruhe. Der vierte Leipziger Aggregatzustand wiederum ist eine streichzarte Mischung aus alledem. Das berühmte Allerlei. Diese Ausgeglichenheit erlebt man aber erst, wenn die Messe losgeht. In den frühen Vormesseabendstunden, wenn alles in den letzten Aufbauwehen (hat nichts mit dem gleichnamigen Verlag zu tun) liegt, kann man Fleiß, Chaos und Ruhe noch in ihren puren, getrennten Formen beobachten wie scheue Rehe auf der Weide.
I) F L E I S S
Überall ist Fleiß: Alles soll fertig werden, glänzen. Handwerker zucken noch zusammen, wenn sie bei der Arbeit unvermittelt fotografiert werden. Das würde Denis Scheck nicht passieren.
Oder hier: Beim ADAC wird erst jeder Reiseführer auf einen intakten Verbandskasten überprüft.
Sehr gespannt sein darf man auch wieder auf die PoetrySlam-Beiträge von Bas Böttcher und seinen Freunden. Die skandierenden Aufsagerebellen werden in eine symbolische Tupperbox gesteckt, damit man sieht, wie frisch diese Art der Literaturperformance ist. Mikrofone übertragen das Gezacker und Gereime dann in Kopfhöhrer nach draußen, damit man sieht, wie obschon technisch doch auch intim diese Art der Literaturperformance ist.
Wenn die Künstler Pause machen, kann man ihnen Bananen oben in den Luftschlitz werfen, die sie dann unter großem Gekreisch zu sich nehmen. (Auch deshalb die Plastikscheibe.)
II) C H A O S
Überall ist Chaos: Wo kein Fleiß Rodung schafft, herrscht noch immer Durcheinander wie zur ersten Stunde; obwohl bestimmt alle hoffen, dass der Rest ganz schnell geht. Da sind zum Beispiel bei arte die orangenen Sitzwürfel noch nicht auseinandergedröselt! Das kann noch Stunden dauern!
Mit Stunden sollten auch diese jungen Menschen rechnen, die bei ihrer Eierkartondeko nicht wissen, wo vorne und wo hinten ist und erschrecken, weil noch Teile übrig sind.
Was man braucht, um vom übrigen Chaos abzulenken, wäre nämlich z.B. ein Leuchtstoffröhrenbaum. Erst mal eingestöpselt ist das so ein Hingucker in Halle 3, dass er den restlichen Arbeitsrückstand überstrahlt und -summt. Das hülfe bestimmt auch beim Eierkartonsortieren.
Die vielen parkenden Wagen sind mir auch immer wieder ein unheimlicher Anblick, wo sonst nur Fußhorden tändeln. Ich stelle mir immer vor, dass der wohnmobilreisende Seckbach-Grandseigneur Herbert Paulerberg es sehr verlockend finden muss, einfach gleich neben seinem Stand in der Halle zu kampieren.
Aber was, um Gottes Willen, hat es zu bedeuten, wenn die Statusanzeige der Technikkabine vom mdr auf „Memory Lost!“ steht? Ich hoffe doch, dass das bis morgen früh behoben ist.
III) R U H E
Aber wo man sich momentan nicht zwischen Fleiß und Chaos entscheiden kann, sondern entweder bereits fertig ist oder im feierlichen Transit schwebt, da herrscht eine merkwürdige, feierliche Ruhe vor dem Sturm. Vor welchem Sturm? Wir sind ja hier nicht in Frankfurt. (Das denke ich jedes Mal vorher, und dann bin ich trotzdem erschlagen.) Aber sehen Sie selbst, wie sich ein letztes Mal Kraft tanken ließ wenige Minuten vor Zapfenstreich.
Wie jedes Jahr laufen die Vorbereitungen für die Leipziger Buchmessepreisverleihung auf vollen Touren, und wie jedes Jahr sinniere ich verzweifelt nach Ausreden, nicht hingehen zu müssen.
Diese Prachtkutsche, deren buchrelevanter Sinn sich mir noch nicht sofort erschließt, wird ab morgen bestimmt nie mehr ohne Umstehende und Dreintrampler zu fotografieren sein, daher nutze ich die Gelegenheit:
Fast schon ein Zen-Garten, nur als Buchmessestandversion mit Papier und Kunst: Dieser wunderschöne monochrome Kleinststand, der hoffentlich morgen nicht mit Menschen verschandelt wird.
Die Art Ruhe, die von diesen allzeit bereiten Crêpe-Platten ausgestrahlt wird, macht mich hingegen ganz unruhig. Da gehört sofort Teig drauf.
…dann noch ein Espresso und alles zusammen in der antiken Kutsche genossen. Vielleicht ist sie ja zum Reinsetzen?
So wie die Crêpes? ( * sabber * )
Gut, Sie ahnen schon, dass hier keine nennenswerte Qualitätsverbesserung gegenüber meinen Frankfurttexten stattfindet. Manche Dinge bleiben eben.
Manche aber auch nicht:
In mehrfacher Hinsicht wird das hier auch eine bedrückende Messe: In Japan geht in diesen Minuten alles vor die Hunde; Andreas Franz verstarb vor vier Tagen ganz plötzlich mit 57, wir sind in Gedanken bei den Trauernden, und wir sollen jetzt trotzdem alle zusammen eine Buchmesse machen. Das wird nicht jedem ganz leicht fallen.
Aber das wird ja auch nicht restlos verlangt.
Das sehe ich ein wenig wie NASA-Pförtner und García-Márquez-Double Jesco Freiherr von Puttkammer: Der Mensch muss weiterwollen dürfen.
Und das soll er auch.
Immerhin hat Christop Links das Verdienstkreuz am Band erhalten – das ist ja auch mal eine schöne Meldung. Mal sehen, ob er das Ding auch wirklich trägt.
Ich wünsche Ihnen einen kraftvollen, hoffnungsstarken, erfreulichen und friedlichen Messeauftakt am Donnerstag.
Ihr
Matthias Mayer