Beckmann kommtiert Bildungsnotstand Bücher: Bundespräsident fordert politischen Kurswechsel

Die Wiedereröffnung der Anna Amalia-Bibliothek in Weimar – sie gehört zum UNECSO-Weltkultur-Erbe und wurde vor drei Jahren durch einen Brand zum Teil zerstört – ist als „Freudentag der Kulturnation“ Deutschland gefeiert worden. Bundespräsident Horst Köhler hat ihn in seiner Festansprache genutzt – „eine der besten Reden in seiner Amtszeit“, wie Eckhard Fuhr im Feuilleton der Zeitung Die Welt rühmte – um die große Vielfalt der hiesigen Bibliothekslandschaft zu würdigen: und einen öffentlichen Notstand auszurufen.

Die Finanzausstattung vieler Institute liegt heute unter dem Notwendigen, die Personaldecke ist dünn geworden. „Viele können ihre Aufgaben der Bewahrung und Erschließung nicht mehr in erforderlichem Maße erfüllen“, stellte Horst Köhler fest. Die öffentlichen Bibliotheken seien jedoch weder ein verzichtbarer Luxus noch „eine Last, die wir aus der Vergangenheit mitschleppen. Sie sind ein Pfund, mit dem wir wuchern müssen.“

So sollte es sein; statt dessen wird dieses „Pfund“ jedoch – um beim Gleichnis des Neuen Testaments zu bleiben – „vergraben“ und die Möglichkeit zur Mehrung seines Wertes verscherzt. Die Politik solcher Wert-Minimierung hat der Bundespräsident gerügt: In anderen PISA-Ländern werden Bibliotheken dank einer „strategischen Verankerung“ in der Bildungsinfrastruktur tatkräftig gefördert. Und bei uns? Auf Bundes- wie Länderebene gibt es nicht einmal entsprechende Zielsetzungen. Der „bibliothekarische Alltag“ ist laut Köhler in manchen Regionen geprägt von einem „regelgerechten Bibliothekssterben“ und dem Fehlen von Mitteln für Neuanschaffungen bei Universitäten.

Angesichts solch elementarer Mängel und Missstände wirkt das momentane Tamtam um Uni-Reformen, Elite-Universitäten und „Exzellenz“-Cluster wie ein reichlich frivoler Maskenball mit Alibi-Kostümierung. Wie schlimm es inzwischen bestellt ist, führt Heike Schmoll in einem Kommentar der FAZ vom Donnerstag konkret vor Augen, um dem Appell des Bundespräsidenten an Bund, Länder und Kommunen Nachdruck zu verleihen. die Errichtung und Erhaltung von Bibliotheken “auf die Tagesordnung“ zu setzen.

„Selbst in Baden-Württemberg, dem Land mit den meisten Elite-Hochschulen, können Studenten und Wissenschaftler häufig nicht mehr auf die Universitäten zurückgreifen“, schreibt sie, „weil dort Zeitschriften und Forschungsreihen in großer Zahl abbestellt wurden. Auch an anderen Universitäten mussten Lehrstuhlinhaber in den Rechtswissenschaften dazu übergehen, sich von befreundeten Rechtsanwälten mit Paketen von Zeitschriftenkopien versorgen zu lassen. Bei der Beschaffung von Fachbüchern stellt sich die Sache noch schlimmer dar. Den meisten Lehrstühlen steht eine so klägliche Summe zur Verfügung, dass sie ihren Bestand nicht einmal mehr als zweiter Hand aufforsten können…“

Und das betrifft hauptsächlich eben keinesfalls sogenannte Orchideenfächer. Es betrifft schon die Grundausstattung zentraler Disziplinen mit studentischer Massenbelegschaft, also eine fundamentale Verpflichtung der Bildungspolitik.

Keine Frage: Auch im Bereich der Wissenschaft macht sich eine Überproduktion breit – mit Wucherungen, die, weil sie, krass ausgedrückt, so überflüssig sind wie ein Kropf, Autoren wie Verlagen um die Ohren geschlagen gehörten – und nicht angeschafft werden müssen.

Keine Frage aber auch: Es hat ein Zeitgeist überhand genommen, der Forderungen kommod erscheinen lässt, „Informationen“ quasi kostenlos zugänglich zu machen und von daher eine Diskreditierung des Systems lanciert, welches die Entstehung und Verbreitung von Wissen seit Jahrhunderten überhaupt ermöglicht hat: das urheberrechtlich verankerte Generatoren- und Verkehrssystem von Forschern/Autoren, Verlagen, Buchhandel und (neuerdings) elektronischen Bezugsplattformen. In diesem Sinne bloggt beispielsweise Heiner Müller in einer Lesermeinung zum FAZ-Bericht über die Neueröffnung der Anna Amalia Bibliothek, um vom Bundespräsidenten zeitgeistiges Denken und Handeln einzufordern.

Primär entscheidend wäre demgemäß nicht, wie von Horst Köhler angemahnt, eine Aufstockung der finanziellen Mittel, um Bibliotheken bildungsstrategisch aufzurüsten, sondern, dass die Politik das Kostensystem revidiere, und da möge der Bundespräsident doch „mit gutem Beispiel voran“ gehen, „zum Beispiel, indem „Sie die neue Urheberrechtsnovelle, die gerade (universitären) Bibliotheken große Steine in den Weg legt und u.a. die elektronische Fernleihe ‚abstellt’, nicht einfach durchwinken.“

„Diese Novelle ist ein typisches Beispiel eines lobbygesteuerten Gesetzes“, so Heiner Müller, „hier setzten sich die Verwerter ganz klar gegen die Interessen der Nutzer (steigende Pauschalabgaben auf z.B. Computer) und auch der Urheber (Verwerter können ohne Nachverhandlung neue ‚Nutzungen’ zwangslizenzieren lassen) durch. Nicht umsonst haben einmütig die Max-Planck-Gesellschaft und Fraunhofer Gesellschaft dagegen protestiert. Und die schlechte Lage der Bibliotheken ist nicht nur in den Mittelkürzungen begründet, sondern auch in den geradezu obszönen Preissteigerungen, die Verwerter wie Elsevier etc (mit Rückendeckung von Teilen der Politik) durchsetzten….“

Zwischen Urhebern/Autoren/, Verwertern und Nutzern (dem „Markt“) existieren unter sich wandelnden Vorzeichen seit eh und je Interessenskonflikte, die von Zeit zu Zeit – nicht zuletzt auch vom Gesetzgeber – neu austariert werden müssen; so wie es auf der einen oder anderen Seite immer wieder zu missbräuchlichen Verkehrungen der herrschenden Umstände gekommen ist, die notwendige Korrekturen heraufbeschwören. (Der internationalre Aufruhr zahlloser Wissenschaftler gegen die anstößigen Praktiken der Preisgestaltung von oligarchen Wissensmedien-Megaunternehmen wie Elsevier wird gewiss Folgen haben.) Fraglich erscheint freilich, ob „Wissen“ ausgerechnet im Zeitalter der Wissensgesellschaft insgesamt auf Dauer wohlfeil zu haben sein wird oder kann – gegebenenfalls unter Zerstörung bestehender Ressourcen und Infrastrukturen. Und so berechtigt Herrn Müllers Bedenken im einzelnen sein mögen: Dass in einer dynamischen Wissensgesellschaft öffentliche und politische Investitionen in Bildungs- und Wissensinstitutionen wie Bibliotheken und Universitäten nicht heruntergeschraubt werden können, sondern einer signifikanten breiten Erhöhung bedürfen, ist unabweisbar – wenn sie kein rhetorischer Popanz bleiben soll.

So stellen sich auch die umstrittenen Studiengebühren in einem anderen Licht dar, wenn man erfährt, dass sie etwa von der Universität Essen-Duisburg zu einem Drittel für den Erwerb neuer Bibliotheksbeständen eingesetzt werden.

Es wäre allerdings falsch, nur von öffentlichen, und nicht auch von notwendigen privaten Investitionen in Buch und Wissen zu reden. So geistert eine These durch die deutsche Geisteswelt, Bücher seien zu teuer – eine These, für die gern das eine oder andere Zitat von Kurt Tucholsky von 1928 bemüht wird. Doch Bücher sind zu keiner Zeit so preiswert oder gar billig gewesen wie heute. Und wenn, wie jüngst geschehen, ein Lehrstuhlinhaber einem akademischen Buchhändler vorhält, ein knapp 200seitiges Kompendium mit Grundlagentexten seines Wirtschaftsfaches zu 11,80 Euro sei seinen Studenten preislich unzumutbar, muss die Frage erlaubt sein. Wofür geben Studenten ihr Geld aus, wenn sie für so etwas keine Mittel zu haben vorgeben?

Umsonst sind Bildung und Wissen noch nie zu haben gewesen. Wer meint, sie mehr oder weniger kostenlos einstreichen zu können, leistet auf sie Verzicht. Ein Land aber, das sich dank der Vermächtnisse seiner Vergangenheit als Kulturnation rühmt und in Bildung wie Forschung Elitestatus erreichen will, macht sich lächerlich, wenn es die Mehrzahl seiner Studenten fundamentaler Bildungsgrundlagen beraubt.

Die Autoren, die überwiegende Mehrheit der Verlage und der Sortimenter aber wirtschaften und leben auf einem Niveau, dass man ihnen zwar Selbstausbeutung bzw. Raubbau mit ihren Mitarbeitern vorwerfen könnte. Ihnen zu unterstellen, durch den Handel mit Buch und Wissen Reichtümer zu scheffeln, ist ein zum Himmel schreiendes Unrecht. Und allen Propheten eines neuen, digitalistischen Zeitalters (und ihre eigene materielle Interessen verfolgenden Lobbys) zum Trotz: Vorläufig bleiben das gute alte Buch und die guten alten Bibliotheken als Medien und Träger von Wissen unverzichtbar. Wenn der Börsenverein des Deutschen Buchhandels dergleichen behauptet, wird er weithin nur als Lobby altmodischer Besitzstandswahrer belächelt. Das Amt des Bundespräsidenten steht über solchem Gerangel. Gut, dass er die Öffentlichkeit und die Politik in seiner Weimarer Festrede klar in die Pflicht genommen hat.

Gerhard Beckmann freut sich über Antworten an GHA-Beckmann@t-online.de

Weitere Beiträge der Kolumne „Beckmann kommentiert“ finden Sie im Archiv unter dem Stichwort: „beckkomm“.

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