Liebe Freunde,
mit dem heutigen Sonntag endet die Leipziger Buchmesse für dieses Jahr. Glauben Sie bloß nicht, dass ich heute noch viel zu tun gehabt hätte. Lassen Sie mich Ihnen zum Beispiel mein Stammkaffeepersonal aus Halle 3 vorstellen: Die Kaffeemafia, die nicht nur im Porsche 928 S mahlt und brüht, sondern mit ihren pittoresken Fahrzeugen übers ganze Gelände verteilt war.
Das typischste am Leipzigsonntag ist, dass alle wichtigen Leute schon nach Hause gefahren sind.
Alle bis auf Ursula Rosengart. Die GABAL-Chefin bleibt bis zum Schluss, packt alle GABAL-Bücher ein und fährt sich anschließend auch noch selbst heim. Wir kommen überein, dass wir beide Roger Willemsen vermisst haben. War der da? (Und hätte der sie sonst heimgefahren?)
Hier noch ein Abschiedsfoto in Erinnerung an die lustige Zeit, die ich am BuchMarkt-Stand mit den Redakteuren Uli Faure und Matthias Koeffler gerne gehabt hätte. Provoka- und demonstrativ rauchen Koeffler und ich auf der rauchfreien Messe zwei filterfreie Gitanes. Da es zehn Minuten vor Öffnung war, war die Messe auch noch gar keine Messe, und so konstruierten wir uns hieraus eine arschbillige Rauchrechtfertigung.
Faure raucht nicht und ist deshalb bereits betrunken erschienen.
Unser Kapitän (Käpt’n Zitty) ist leider nicht mehr mit an Bord, weil er noch Überstunden im Früherheimdürfen machen muss.
Als plötzlich ein freiberuflicher Narzist um die Ecke biegt, der ein Marionettenebenbild von sich spazieren führte, da dachten wir uns:
Unseren Chef hätten wir eigentlich auch gerne aus Holz und mit Fäden dran.
Aber bleiben wir lieber beim messerelevanten Teil des Themas „Künstliche Welten“:
Das Wochenende und insbesondere der Sonntag ist den CosPlayern gewidmet. In meinem Alter freut man sich, wenn man mal eine Figur erkennt, weil sie von 1937 ist oder so.
Relativ häufig trifft man hier und in Frankfurt immer wieder klassische Disney-Charaktere an, wie hier Schneewittchen:
Oder Tinkerbelle aka Naseweis aka Glöckchen:
Beachten Sie bitte hieran, wie wichtig neben der Kostümierung auch die passende Pose ist, um den Gesamteindruck zu stützen.
Besondere Anerkennung verdient sich, wessen Kostüm die meiste Arbeit macht oder am beschissensten zu tragen ist. Ich habe ein Mädchen gesehen, das als Engel verkleidet war. Ihre riesigen Flügel hatten eine Spannweite von mindestens vier Metern und wogen so viel, dass das Mädchen zwei Flügelträgerinnen mitbrachte und trotzdem immer noch leicht gebeugt gehen musste.
Und manche CosPlayer kommen nur auf die Buchmesse, um sich dort auszubreiten und dann den ganzen Tag nicht mehr zu bewegen:
Auch einen weiteren Avatar habe ich gefunden:
Insgesamt lohnt sich ein Besuch in Halle 2 eher am Sonntag als am Samstag, weil es dann nicht so voll ist. Zwei der vielen interessanten Angebote waren z.B. Kalligraphie und Kimono-Shooting!
Sonntag ist klassischerweise auch immer der Tag, an dem mein siebenjähriger Sohn Lou mich auf der Buchmesse besucht. Und er musste den Vergleich mit den Älteren CosPlayern nicht scheuen, denn sein Lucky-Luke-Kostüm ist mit viel Liebe zum Detail zusammengestellt und stimmt von der Sohle bis zum Hut.
Zur seiner eigenen Verblüffung (und meiner Rührung) kam Lucky Lou Cedric Mayer bei den Großen sehr gut an – jeder wollte ein Foto von oder mit Lucky Luke!
Ich denke doch, liebe Elke Schickedanz bei Egmont Ehapa, dass diese Markenergebenheit mindestens eine Tüte Giveaways verdient hat.
Aber genug von aufgemotzten Männern und ihren Männlichkeitsterritorien, wenden wir uns lieber dem Thema Biker zu. In Halle 5 hat nämlich Lommel seinen Stand, so groß wie der von BuchMarkt, aber nur ein einziges Buch: seines. Ein Stand, ein Autor, ein Buch. Lommel, Berliner Rocker-Legende, wurde 60 und dachte: „Da schreib‘ icke doch ma’n Buch.“ Und so einen großen Stand brauche man schon, um Typen wie mich anzulocken.
Lektoriert hat er es selber. Es gebe nämlich auch eine Menge intelligenter Rocker. Ich ergänze, dass die sich mit den blöden Journalisten sicher die Waage halten. Daraufhin habe ich mir erst einmal einen Biker-Kaffee verdient, und bei Gott, das war einer. Ich werfe Ihnen noch ein paar Marginalien hin: Lommel war Dachdecker, ist nun Rentner und Chef seines eigenen Biker-Clubs. Sein Buch gibt es bei der Firma Weber, ebenso das Hörbuch dazu, eingelesen vom Gitarristen Micky Wolf.
Als Zielgruppe bieten sich natürlich alle Biker an, aber auch trittbrettfahrende Daheimbleiber wie ich. Am Ende bekomme ich sogar eine Lommel-Tasse, die ich in Ehren halten werde, falls ich eines Tages mal einen Lektor damit erschlagen will oder nochmal Lust auf Biker-Kaffee habe.
Und das war die Leipziger Buchmesse 2010. Ich habe vier Interviews geführt und mich ansonsten ein wenig herumgetrieben und hie und da geguckt. Ich habe dieses mal keine Rindswurst bei Edition XXL gegessen, das muss ich also im Herbst in Frankfurt nachholen.
Ein Symbolbild möchte ich loswerden: Die Tütenburg der ARD. Robuste Tragetaschen mit Henkeln aus Kordel und einem lackierten Buchhandels- oder Sonstwiemedienmotiv sind zum Sinnbild der Giveaway-Währung geworden und dabei selbst Giveaway Nummer Eins. Beide Buchmessen sind mittlerweile völlige Gratistragetaschenmessen geworden.
Das meiste literarische Leben findet tatsächlich in Leipzig City statt und nicht auf Leipzig Messe. Die Stadt Leipzig ist dermaßen leserisch, dass wir paar Aussteller mit unseren Kaufladen-Separées nur einen kleinen Teil dieser Messewoche ausmachen. Wir haben Messe, und Leipzig hat Lesenächte.
Diese pure Leselust zeichnete sich aber auch bei uns in den Hallen ab. Weitaus häufiger als auf der Frankfurter Messe sitzen irgendwo irgendwelche Leute und lesen gerade was vor. In Leipzig gibt es eine eigene Infrastrukur fürs Hinsetzen und Zuhören – viele, viele Leseräume, Lesezonen, Minibühnen; die vielen Standleser, die eben einfach an einem Stand stehen oder sitzen und aus ihrem Buch vorlesen, gibt es in Frankfurt ebenfalls nicht.
Aber Leipzig ist auch weit weg, und heute ist praktisch jeder Zug, der von Leipzig wegführt, überfüllt, so dass ich also noch einen gewaltigen Heimweg vor mir habe. Dass mein Koffer voller geklauter Bücher und somit sehr schwer ist, macht die Rückreise nicht einfacher, und deshalb endet mein Leipzig 2010 hier.
Auch dieses Jahr blieben wieder viele Fragen offen:
Am Bahnsteig erspähe ich Helge Timmerberg am Aschenbecher, wo sonst. Der würde sogar einen Bahnsteig-Aschenbecher benutzen, obwohl er gar nicht verreist. Er erzählt mir, wie sehr er sich darauf gefreut habe, endlich mal Nina Hagen kennenzulernen, und wie rasch sich diese Freude erschöpft, wenn man ihr mal ein paar Sekunden zuhört. Mensch, Timmerberg, alte Jule, das weiß man doch vorher – nicht einmal Indien und LSD können einen auf Nina Hagen vorbereiten.
Diesen Mann habe ich sicher nicht zum letzten mal getroffen.
Und was Sie, liebe Leser, und mich betrifft –
wir sehen uns wieder spätestens im Oktober 2010 in Frankfurt!
Vielen Dank für Ihre liebe Beteiligung an meiner kleinen interaktiven Messeglosse, vielen Dank für die vielen Klicks.
Matthias Mayer