Beckmann kommtiert Die seltsame Herkunft und Fragwürdigkeit der Prognose, „dass in den kommenden drei bis fünf Jahren etwa 40 Prozent der Buchhandlungen schließen müssen“

Wenn der Wirtschaftsredakteur (oder Autor) einer maßgeblichen Zeitung in einem Artikel einfach so, als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre, erwähnt, dass in weniger als fünf Jahren für etwa die Hälfte der Geschäfte einer wichtigen, uns vertrauten Einzelhandelsbranche das Licht ausgeht, reibt man sich die Augen und fragt sich: Ist das so selbstverständlich?

Lässt sich aus den Fakten der jüngsten Vergangenheit für die nächste Zukunft wirklich ein so dramatischer Entwicklungsverlauf extrapolieren?
Nein, und nochmals: Nein, aus dreierlei Gründen.

1.
Die (Bar-) Umsatzrückgänge des stationären Buchhandels für die Jahre 2010 bis 2012 – minus 2,8%, minus 3 % bzw. minus 3,7 % – sind keine Basis für die Prognose eines so gewaltigen raschen Umsatzeinbruchs, dass er das Ende von etwa 40 Prozent des Sortiments in drei bis fünf Jahren nach sich ziehen müsste.

Ein statistisch erfasster Wirtschaftstrend lässt sich ohnehin nie mechanisch in die Zukunft fortschreiben. Das zeigt sich erneut im Rahmen dieser Geschichte. Denn gemäß der neuesten Zahlen des Börsenvereins konnte der stationäre Buchhandel seinen (Bar-)Umsatz 2013 wieder steigern, um 0,9 Prozent; und damit „schnitt er erstmals sogar besser ab als der gesamte Publikumsmarkt, der auch E-Commerce und Kauf-/Warenhäuser einschließt.“ Mit anderen Worten: Der angeblich zumindest mittelfristig als dauerhaft unterstellte negative Umsatztrend brach, wie Anfang Januar publik wurde, im Jahr 2013 ab – und lässt sich folglich gar nicht weiter in die Zukunft projizieren.

Andere Fakten bestätigen die Unhaltbarkeit besagter Vorhersage. Denn ihr zufolge müssten ja in drei bis fünf Jahren 1.364 der aktuell 3.490 Mitgliedsbuchhandlungen des Börsenvereins dichtmachen. Aber – warum sollte es künftig, von 2017 bis 2019, plötzlich vierzig Prozent der heute eigenständigen Sortimente erwischen, wenn in der jüngsten Vergangenheit (2010 – 2013) bloß knapp 10,4 Prozent der stationären Handelsunternehmen aufgaben? So was zu prophezeien ist, weil es allen Regeln der Prognostik widerspricht, selbst denen einer schon in sich nicht unproblematischen linearen Fortschreibung von statistischen Markt-Trends, Hokuspokus.

2.
An diesem Punkt gerät nun ein komisches Phänomen ins Blickfeld: Es gibt niemand, der eine seriöse Prognose dieser Art aufstellt. Der eingangs erwähnte Redakteur bzw. Autor tut es ebenfalls nicht. Die Vorhersage wird immer wieder mal bloß zitiert oder kolportiert, wie in dem F.A.Z. Artikel, wo sie – nicht minder typisch – auch keineswegs auf ihre Stichhaltigkeit überprüft wird. Sie scheint wie eine nützliche, weil anschauliche Formel zur Konkretisierung des gerade in den Medien beliebten Allgemeinplatzes, dass im Handel irgendwie alles auf Online, Digitalisierung bzw. Internet hinausläuft.

Also haben wir es hier quasi mit einem Versatzstück einer populären Marktideologie zu tun, von dessen Verwendung man sich, ähnlich wie beim guten alten Vorurteil, selbst durch gegenläufige neue Fakten nicht abbringen lassen will. So war etwa die Umsatz-Trendwende von 2013 – siehe oben unter a). – unmittelbar vor Erscheinen des Artikels in der F.A.Z publik geworden und wird dort zwar erwähnt, aber nicht gebührend reflektiert.

„Aber wo kommt der Quatsch her?“ wollte ein befreundeter Sortimenter wissen. Ihn trieb der apostrophierte Rapidverfall des stationären Buchhandels wieder mal in existentielle Verzweiflung und Weißglut. Und er wollte sich nicht mit dem Verweis des Redakteurs zufrieden geben, dass die leidige „Vorhersage“ auf „Branchenexperten“ zurückgeht.

Die Suche nach der Quelle gab dieser Geschichte schließlich einen geradezu irren Tupfer.

3.
Ich habe keine „Branchenexperten“ aufzuspüren vermocht, die für die Vorhersage, „dass in den kommenden drei bis fünf Jahren etwa 40 Prozent der Buchhandlungen schließen müssen“, die Verantwortung übernehmen.

Die Prognose ist jedoch – den Zeitraum wie das Ausmaß betreffend – so konkret, dass sie nur einen klar auffindbaren Ursprung haben kann.

Aus den Spuren des Zitierwegs ergab sich die erste überraschende Erkenntnis: Die Prognose ist keinesfalls neu. Sie wird zwar immer wieder so zitiert, als ob sie aktuell ausgegeben sei, ist aber bereits über drei Jahre alt.

Sie kann somit, zum ersten, gar nicht auf aktuell schlüssigen Fakten und Trends basieren.
Die ist deshalb, zweitens, auch als Aussage zur Entwicklung „über die kommenden drei bis fünf Jahre“ irrelevant.
Und drittens hat sie sich – in Anbetracht der hier im 1. Teil aufgezeigten tatsächlichen Entwicklung – als Orakel schon für die vergangenen drei bis vier Jahre diskreditiert.

4.
Urheber der Vorhersage ist Carel Halff. Er mischte sich, wie der Online-Dienst Perlentaucher vom 25. November 2011 bemerkte, „neuerdings zunehmend vorlaut ins Branchengespräch ein, wenn er etwa 2010 im Interview mit buchreport prognostizierte, dass bis 2015 `bis zu 40 Prozent der Buchflächen im stationären Handel aufgegeben’ würden.“ Die Vorhersage
wurde in einem nachfolgenden Interview des Branchenmagazins Buchreport (vom 13. Juli 2010) mit Carel Halff und Maximilan Hugendubel bestätigt und gelangte mit dem Artikel Peter Steinkirchers in der „Wirtschaftswoche“ vom 2. 10. 2010 zur Frankfurter Buchmesse in die breite Öffentlichkeit.

Carel Halff ist nun allerdings kaum als „Branchenexperte anzuführen. Als Geschäftsführer der Weltbild Verlagsgruppe ist er vielmehr einer der wichtigsten Akteure der Buchbranche, und seine Verlautbarungen sind oft ein Instrument seiner Geschäftspolitik gewesen. Das gilt ganz besonders für das Verhältnis von Versand-, Filial-, Online und E-Book-Handel vis-à-vis stationärem Sortiment. Und die fragliche Prognose äußerte er zu einem Zeitpunkt, als bereits die Krise und die Notwendigkeit zu einer tiefgreifenden Umstrukturierung seines Konzerns ersichtlich waren. Seine Vorhersage vom Juli 2010, dass 40 Prozent der Buchhandelsflächen in den kommenden drei bis fünf Jahren schließen müssten, gehört in den Zusammenhang dieser Krise seines Konzerns. Als seriöse Prognose zur Entwicklung des ganzen Buchhandels war sie schon damals kaum geeignet.

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