ARCHIV Hartwig Bögeholz über eine fragwürdige Abrechnung mit der „Astrid Lindgren der Pädagogikliteratur“

Hartwig Bögeholz ist Autor und Geschäftsführer der „Jürmker“ Bücherstube GmbH“ (Bielefeld).Er wird in loser Folge aus seiner Wahlheimat Stockholm berichten, seinem zweiten Wohnsitz.

Heute schreibt er über eine fragwürdige Abrechnung mit der Astrid Lindgren der Pädagogikliteratur

Kein anderes Thema hat die Schweden in diesen Wochen derart aufgewühlt wie die Abrechnung einer Tochter mit ihrer Mutter. Nein, es handelt sich weder um einen Krimi noch einen Roman, weder um ein Theater-Drama noch eine Fernseh-Soap. Felicia Feldt, der Nachname

Anna Wahlgren
Das Buch,
das Schweden
aufwühlt

ist ein Pseudonym, veröffentlichte Anfang Januar 2012 ein zorniges Buch, in dem sie ihre Mutter auf das Schärfste angreift und verurteilt („Felicia försvann“, deutsch „Felicia verschwand“, Weyler Förlag 2012, ISBN 978-91-85849-68-0; Preis etwa 180 Schwedische Kronen). Diese Mutter wird im Buch allerdings an keiner Stelle namentlich benannt, obgleich ihr Antlitz auf dem Cover abgebildet ist. Sie bliebe unbekannt und würde keinerlei öffentliches Interesse erregen, wenn sie nicht jeder in Schweden kennen würde.

Denn sie ist nicht irgendwer. Anna Wahlgren verfasste nicht nur eine Reihe belletristischer Werke, sondern ist seit Erscheinen ihres „Barnaboken“ im Jahr 1983 (deutsch „Das Kinderbuch“, Beltz – siehe unten) Schwedens bekannteste Erziehungsratgeberin. Mehr als eine Million Exemplare wurden in ganz Europa verkauft, die Hälfte davon in Skandinavien. Insgesamt 27 Bücher stammen aus ihrer Feder (einige in deutschen Ausgaben bei Beltz, siehe unten), die ganze Generationen von unschlüssigen Eltern mit Tipps, Ratschlägen, Anleitungen und Wegweisungen versorgten. Zwar gerieten einige eher kontroverse Einzelmethoden in die Kritik, darunter die berüchtigten Klapse auf den Po, die das Einschlafen befördern sollten. 2009 zeigten Kinderärzte sie deshalb beim Kinderschutzbund an. Gleichwohl ist Wahlgrens zentrale Botschaft, liebe Dein Kind, begegne ihm mit Konsequenz und lasse es in die Familie hineinwachsen, eine ernstzunehmende Alternative zur hilflosen Überbesorgheit vor dem Kinde, die weite Teile der neueren Ratgeberliteratur kennzeichnet.

Felicia ist das dritte von neun Kindern, die Anna Wahlgren zwischen 1962 und 1979 zur Welt brachte; eines verstarb früh an Diphterie. Aufgrund ihrer Bücher erwuchs in der Öffentlichkeit das Bild der Supermama, die alles richtig macht und deren Kinder wunschlos glücklich sind. In Schweden kursierte gar die Sentenz, sie sei die „Astrid Lindgren der Pädagogikliteratur“. Gespickt mit allerlei auch intimen Details sucht Felicia dieses Bild mit aller Macht zu zerstören. Ihren Angaben zufolge lebte Wahlgren ein Leben, das selbstsüchtig war und auf Kosten der Kinder ging; weder sei sie fürsorglich noch gütig gewesen. Ganz im Gegenteil. Von Vernachlässigung und Herabwürdigung zu bloßen Werbeträgern, von Gewaltdrohungen und sexuellen Übergriffen durch die Liebhaber ihrer Mutter ist die Rede.

Unmittelbar nach Erscheinen Anfang Januar 2012 war diese Abrechnung Thema in allen Medien. In den Bestsellerlisten stieg der Titel über Platz 10 auf Platz 2. Er gab ein gefundenes Fressen vor allem für die Klatschpresse ab. Letzterer reichte bereits der Lebenslauf der 1942 geborenen Wahlgren. Sie war siebenmal verheiratet, mit einem Mann gleich zweimal; die Ehen hielten entweder nur ein Jahr oder vier Jahre. Ihre Kinder stammen von drei der Männer. Bereits dies wurde zum hinreichenden Grund genommen, sie als sexversessene, trinksüchtige Rabenmutter und damit als Person zu diskreditieren. Nur die seriösen Medien unternahmen die Mühe, die anderen Kinder von Anna Wahlgren zu befragen – von denen keines die Anwürfe ihrer Schwester Felicia teilen mochte. Die Zweifel am Wahrheitsgehalt ihrer Schilderungen sind erheblich.

Der Verleger des Buches Svante Weyler, zuvor beim renommierten und altehrwürdigen Verlag Norstedts tätig, muss ob seines Vorgehens heftige Kritik einstecken. So wirft ihm die Literatin Aase Berg im „Expressen“ vor, die Wirkung des Buches allein auf die erhofften Reaktionen der Medien gegründet zu haben. Dass im Buch der Name der Anna Wahlgren verschwiegen, diese aber auf dem Cover fotografisch gezeigt werde, sei Heuchelei und Doppelzüngigkeit sondergleichen. Zumal Weyler bewußt auf die tatsächlich eingetretene Skandalisierung spekuliert und das Wiederaufleben längst tot geglaubter Klischees in Kauf genommen habe.

Denn so liberal und progressiv die schwedische Gesellschaft erscheinen mag, manche ihrer traditionellen Eigenarten sind zählebig. Was die wahre Astrid Lindgren in „Emil i Lönneberga“ („Michel aus Lönneberga“) Emils Mutter sagen lässt, wie Köttbullar (Fleischklößchen) sein sollten, bezeichnet eine fundamentale Säule der schwedischen Mentalität: „Lagom stora, lagom runda och lagom bruna“. Lagom, nicht zu viel und nicht zu wenig, eben genau richtig – zu keinem Zeitpunkt war Anna Wahlgrens Leben lagom. Sie durchbrach alle Konventionen und Tabus – und es gelang ihr, trotz ihres turbulenten Lebenswandels acht Kinder großzuziehen und ihre Autorinnenexistenz aufzubauen. Eine Leistung, die auch im Wohlfahrtsstaat Schweden nicht eben selbstverständlich war.

Anna Wahlgren selbst gab nur eine einzige Stellungnahme ab: „Felicia ist 44 Jahre alt. Viele Menschen in diesem Alter müssen Erlebnisse aus der Kindheit verarbeiten. Die meisten tun es jedoch nicht öffentlich … Mit ihrem Buch, das mich überrascht, versucht Felicia, mir die Ehre abzusprechen. Ich antworte damit, dass ich ihr nicht die Ehre absprechen werde. Ansonsten habe ich keinen Kommentar.“

Wahlgren, Anna
Das KinderBuch
Wie kleine Menschen groß werden. Sonderausgabe
(Beltz, J) ISBN: 978-3-407-85916-7
821 S. – 22,5 x 15,3 cm
Leseprobe: http://www.beltz.de/fileadmin/beltz/leseproben/978-3-407-85916-7.pdf

Wahlgren, Anna
Das DurchschlafBuch
Die sanfte Schlafkur für dein Baby
(Beltz, J) ISBN: 978-3-407-85852-8
304 S.

Wahlgren, Anna
Kleine Kinder brauchen uns
(Beltz, J) ISBN: 978-3-407-85777-4
396 S., Mit zahlreichen Abbildungen

Wahlgren, Anna
Die Welt mit Kinderaugen sehen
Warum wir für unsere Kinder kämpfen müssen
(Beltz, J) ISBN: 978-3-407-85911-2
217 S. – 21,2 x 13,7 cm

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