Hinweise, dass die geläufigen Thesen über das heutige Lese-Interesse und -Verhalten in der Bevölkerung unzulässige Verallgemeinerungen sein könnten

Es gab sie in Deutschland schon zu Großmutters Zeiten und gibt sie auch heute – in Passau beispielsweise sind es meines Wissens zwei -, doch existieren sie eher im Verborgenen. Sie scheinen wenig bekannt. Von Buchhändlern, Medien und Verlagen werden sie kaum beachtet.

In der angelsächsischen Welt dagegen haben sich Lesezirkel während des letzten Jahrzehnts in erstaunlichem Umfang ausgebreitet und zu einem bedeutenden Faktor der Lesekultur entwickelt, der von etlichen Verlagen sogar systematisch gepflegt wird. Die Londoner Zeitung The Guardian hatte bis vor kurzem in ihrer Wochenendbeilage eine längere reguläre Kolumne, in welcher der renommierte Literaturwissenschaftler und -Kritiker John Mullan klassische und zeitgenössische Werke eigens unter dem besonderen Gesichtspunkt des Diskutierens vorstellte. Etliche Websites tun Ähnliches.

Dieses Phänomen umfasst dort alle Bevölkerungsschichten und Berufsgruppen. Das Erstaunliche: Es zeigt ein Leseverhalten, das oftmals von den sattsam bekannten und publizierten Thesen über heutige Trends der Lesekultur abweicht.

So hat in den USA jüngst die einflussreiche Showmasterin Oprah Winfreh in ihrem Fernseh-Book Club Tolstois Anna Karenina präsentiert – mit dem Resultat, dass dieser Klassiker der russischen Literatur, der nun bestimmt nicht den generellen Vorstellungen über den Lesekonsum in den Vereinigten Staaten entspricht, über solche Reading Groups aktuell zum meistgelesenen Buch des Landes geworden ist.

In Großbritannien existieren mittlerweile rund 15.000 Lesezirkel, die soziologisch schon als Gegenbewegung zur „Kultur“ der sms, kurzgepfriemelten Massenmedientexturen und den TV „Reality“-Shows gesehen werden. Den Penguin/Orange Reading Group Prize, der alljährlich dem Lesekreis verliehen wird, welcher in Großbritannien „das schöpferische und inhaltlich breiteste Lesen“ an den Tag legt, haben für 2003 jetzt „The Racketeers“ zugesprochen bekommen.

Das ist die erste Überraschung: Man geht gern davon aus, dass solche Lesegruppen von Frauen dominiert seien oder sich gar hauptsächlich aus Frauen zusammensetzen. Den „Racketeers“ gehören jedoch ausschließlich Männer an – Techniker, Buchhalter, Lehrer, Manager, Computerleute -, die an jedem Freitagabend im Pub über Bücher diskutieren und sich einmal jährlich in einem chinesischen Restaurant treffen, um eine eigene Rangliste der besten von ihnen gelesenen Titel aufzustellen und ihren Literaturpreis zu küren.

Die zweite Überraschung: Diese Rangliste enthält bis auf eine Ausnahme keine einzige Novität; sie zeigt ältere, teils sogar weniger populäre Werke von Graham Swift, Graham Greene, Richard Wright, J. D. Salinger, Gore Vidal, William Boyd und Eric Jerome Dickey. Anders gesagt: Die Männer lesen unbeeinflusst vom aktuellen öffentlichen Literatur- und Medientheater. (Ein tendenziell ähnliches Ergebnis brachte kürzlich eine Befragung der Teilnehmer an einem großen britischen Literaturfestival.)

Die dritte Überraschung: Es heißt immer wieder – und Statistiken scheinen es immer wieder zu bestätigen -, dass Männer nur selten Romane von Schriftstellerinnen lesen. Auf der Bestenliste des Leseclubs „The Racketeers“ aber landeten auf den Plätzen 3, 4 und 7 Margaret Atwood, Monica Ali und Donna Tartt – Margaret Atwood obendrein mit ihrem eher schwierigen zweiten Werk und Monica Ali mit Brick Lane, einem Debut über zwei in einem armen östlichen Londoner Pakistanerviertel lebende muslimische Schwestern.

Wie Stephanie Merritt, die stellvertretende Literaturchefin der Sunday Times zu Recht kommentiert: All das „bedeutet eine erfreuliche Erinnerung daran, dass Wert, Nutzen und Wirkung guter Literatur nicht nach demographischen Spezifika eingegrenzt ist; und es ist reduktionistisch zu meinen, dass Männer und Frauen prinzipiell anders lesen“.

P.S. Große amerikanische Verlage haben im Rahmen neuer Marketingaktionen inzwischen für die Reading Groups eine eigene Website eingerichtet und bieten ihnen Anregungen zur Diskussion über die Titel (sowie manchmal die Möglichkeit, dazu Autoren einzuladen). Wer sich orientieren möchte, könnte z. B. anklicken http://harpercollins.com/hc/readers/index.asp

Gerhard Beckmann sagt hier regelmäßig seine Meinung … und freut sich über Antworten an GHA-Beckmann@t-online.de. Natürlich können Sie diese Kolumne auch im BuchMarkt-Forum diskutieren. Einfach oben auf der Seite den Button „Forum“ anklicken, einloggen und los geht‘s.

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