Die Rechte-Kolumne Kultbuch vor Gericht – Darf man den „Fänger im Roggen“ fortschreiben?

Kürzlich meldete SPIEGEL-Online, dass ein schwedisch-amerikanischer Autor namens John David California eine Fortsetzung zu J.D. Salingers 1951 erschienenem, legendärem Buch „Fänger im Roggen“ geschrieben haben soll [mehr…]. „Der Fänger“ ist mit mehr als 25 Millionen verkauften Exemplaren der weltweit wohl erfolgreichste coming-of -age-Roman. Er handelt von dem sich von der Umwelt unverstandenen siebzehnjährigen Schulabbrecher Holden Caulfield. Generationen von meist männlichen Lesern fanden sich in der Figur des Holden wieder, in seinen Sorgen und Gedanken: Autoritäten mag er nicht, Mädchen sind seltsam, Eltern verstehen einen nicht, warum eigentlich müssen sich die Dinge dauernd ändern und wer eigentlich kümmert sich um die Enten im Teich des Central Parks, wenn es Winter wird und er zufriert?

(Die meisten der deutschen Leser lernten und lernen den Roman wohl als fremdsprachige Schullektüre im englischen Original kennen. Die erste Übersetzung ins Deutsche erfolgte 1954 durch Irene Muehlon und wurde 1962 von niemand geringerem als Heinrich Böll überarbeitet. Bölls Übersetzung von Salingers Jugendsprache kam allerdings recht schnell in die Jahre. 2003 endlich wurde der „Fänger im Roggen“ von Eike Schönfeld neu übersetzt und behutsam modernisiert.)

In einem Interview mit dem britischen „Guardian“ verkündete der Autor John David California, dass seine Fortsetzung entstanden sei aus der Überlegung über den Salinger-Protagonisten Holden Caulfield: „Ich habe mich immer gewundert, was wohl aus ihm geworden ist – und ich meine, er hat ein Leben über die ersten 16 Jahre hinaus verdient.“ Salinger hingegen lehnte stets Spekulationen über das weitere Leben Caulfields mit dem Satz ab: „Lesen Sie doch das Buch noch einmal, da steht alles drin. Holden Caulfield ist nur ein Moment geronnener Zeit.“ Der bereits seit mehr als fünfzig Jahren zurückgezogen lebende, geheimnisumwitterte Autor des Weltbestsellers will die Fortsetzung deshalb nicht hinnehmen und lässt rechtliche Schritte ankündigen.

Seine Chancen nach deutschem Urheberrecht wären sehr groß, denn der Nachfolgetitel „60 Years Later, Coming Through the Rye“ lehnt sich wohl zu eng an das Original des auf englisch „Catcher in the Rye“ lauteten „Fängers“ an:

Nach deutschem Urheberrecht ist bei einem Roman, der als Werk der Literatur Urheberrechtsschutz genießt, nicht nur die konkrete Textfassung oder die unmittelbare Formgebung eines Gedankens urheberrechtlich schutzfähig. Auch eigenpersönlich geprägte Bestandteile und formbildende Elemente des Werkes, die im Gang der Handlung, in der Charakteristik und Rollenverteilung der handelnden Personen, der Ausgestaltung von Szenen und in der „Szenerie“ des Romans liegen, genießen Urheberrechtsschutz. Damit erstreckt sich der Schutz üblicherweise auch auf Fortsetzungen.

Der Bundesgerichtshof hatte 1994 im Fall „Laras Tochter“, einer Fortsetzung von „Doktor Schiwago“, festgestellt, dass die dort aus „Dr. Shiwago“ übernommenen Elemente nur unfrei und damit unerlaubt benutzt waren. Bei der Frage, ob in zulässiger, freier Benutzung eines geschützten älteren Werkes ein selbständiges neues Werk geschaffen worden ist, komme es entscheidend auf den Abstand an, den das neue Werk zu den entlehnten eigenpersönlichen Zügen des benutzten Werkes halte. Dabei sei kein zu milder Maßstab anzulegen. Eine freie Benutzung setze daher voraus, dass die dem geschützten älteren Werk entlehnten eigenpersönlichen Züge in dem neuen Werk in der Weise zurücktreten, dass das neue Werk nicht mehr in relevantem Umfang das ältere benutze, sondern dass dieses nur noch als Anregung zu neuem, selbständigem Werkschaffen erscheine.

Bei „Laras Tochter jedoch sei mehr als nur eine zulässige Anregung feststellbar. Gestützt auf literaturwissenschaftliche Gutachten urteilte das Gericht, dass der Fortsetzungsautor die im älteren Werk zu findenden Handlungsfäden in linearer Fortschreibung aufgenommen und – bei allen Unterschieden, die sich naturgemäß ergäben, wenn sich zwei grundverschiedene Autoren desselben Themas annähmen – im Sinne der Vorlage weitergesponnen habe. „Laras Tochter“ habe als Disposition fast alle Teile der Handlung von „Dr. Schiwago“ verwendet, die sich für eine Fortsetzung eigneten. Dies gelte insbesondere für das Schicksal der
Hauptpersonen. Der Fortsetzungs-Autor Mollin habe vom Ursprungs-Autor Pasternak nicht nur die Personen seines Romans übernommen, sondern auch ihre Umgebung und das Beziehungsgeflecht, das diese Personen verbinde.

Das jüngere Werk sei fast durchweg bemüht, beim Leser den Eindruck zu erwecken, die weitere Entwicklung der Geschichte des „Dr. Schiwago“, wenn auch nunmehr aus anderer Perspektive, mitzuerleben. Der für eine freie Benutzung erforderliche deutliche Abstand zu den entlehnten eigenpersönlichen Zügen des benutzten Werkes, dass die entlehnten eigenpersönlichen Züge des älteren Werkes in dem neuen verblassen, konnte demnach nicht festgestellt werden. Deshalb erfüllte „Laras Tochter“ die strengen Anforderungen an eine freie Benutzung nicht.

Ohne Beschränkung auf die urheberrechtsverletzenden Teile hatte das Gericht deshalb die Unterlassung des weiteren Vertriebs des gesamten Fortsetzungsromans ausgesprochen und den Verlag zu Schadensersatz wegen Urheberrechtsverletzung für bereits vertriebene Exemplare verurteilt und die Vernichtung der noch auf Lager befindlichen Bücher angeordnet.

Da die Rechtslage in den USA kaum anders ist, wird die Fortsetzung des „Fängers“ wohl nie die Buchläden erreichen.

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