Literatur ist ein Leitmedium, das auch für breiteste Leserkreise hoch interessant ist: Eine sensationelle Zeitungsinitiative

Wie lauten doch die ewigen Klagen? Das Buch verliert in der Gesellschaft an Bedeutung. Literatur ist „out“. Die Leute wollen nicht mehr lesen.

Da sollte man sich einmal die neueste Nachricht aus Großbritannien zu Gemüte führen: Die Londoner Daily Mail startet, als erste Zeitung der Welt, am Samstag dieser Woche ihren eigenen Buchklub.

Dass Zeitungen sich – mit großem Erfolg – geschäftlich aktiv in die Verbreitung bedeutender literarischer Werke einmischen, hat bekanntlich in Italien begonnen, mit La Repubblica, in einem Land, wo Bücherlesen nicht gerade als Volkssport gilt. In Deutschland hat dann in diesem Jahr – allen frühen Unkenrufen zum Trotz – die Süddeutsche Zeitung mit ihrer SZ-Bibliothek demonstriert, dass Hunderttausende Menschen durchaus auch Romane unbekannter oder vergessener bedeutender zeitgenössischer Autoren kaufen und lesen wollen. All diese Blätter zählen jedoch zur Qualitätspresse. Das Novum jetzt: Die Daily Mail ist eine Boulevardzeitung, ein Massenmedium. Sie gehört zum Konzern Associated Press und hat eine Auflage von ca. 2,4 Millionen Exemplaren und über sechs Millionen Leser.

Wenn aber ausgerechnet ein Massenblatt – gewiss auch im Sinne der Leserbindung – eine solche Aktion startet, heißt das zunächst mal: Das Buch ist noch immer – oder wieder stärker – ein gesellschaftliches Leitmedium. Es bedeutet ferner: Auch gute, schöngeistige Literatur ist für die breite Leserschicht des Boulevard von Interesse. Denn die – von der Literaturredaktion – ausgewählten Schriftsteller, welche die Daily Mail präsentiert, sind ja Literaten bzw. Autoren von sehr gehobener Unterhaltung: Anne Tyler, Barbara Trapido, Ian McEwan, Michael Frayn, Rose Tremain und Sarah Dunant.

Die ganze Sache ist aber noch in mehreren anderen Punkten bemerkenswert. Sie läuft nach einem neuartigen Geschäftsmodell ab:

(1) Die Daily Mail produziert die Titel nicht als Lizenzen in Eigenregie, sondern kooperiert direkt mit den Originalverlagen.
(2) Die Titel werden auch nicht, wie in Italien, mit den Zeitungen über den Kiosk vertrieben oder, wie bei gewöhnlichen Buchgemeinschaften, über Mailorder und ebenso wenig, was in Großbritannien naheliegend gewesen wäre, über Ketten und Supermärkte, sondern ausschließlich über den Buchhandel.
(3) Das Angebot ergeht über Büchergutscheine – Book Tokens -, die in der Zeitung eingedruckt und herausgeschnitten werden können sowie von den Lesern, je nach Interesse und Laune, genutzt werden oder eben nicht. So gibt es keinerlei Zwang oder laufende Verpflichtung (das Problem bei der Mitgliederwerbung für herkömmliche Buchklubs heute).
(4) Natürlich wird auch hier den Lesern ein Preisvorteil geboten, vier bis fünf Monate nach Erscheinen des Hardcover-Originals – also etwa wie hier zu Lande gemäss des Potsdamer Abkommens – auf die aktuelle Taschenbuchausgabe. Er beträgt fünfzig Prozent vom empfohlenen Ladenpreis. Damit gewinnen die Sortimenter ein deutliches Prä gegenüber den Ketten, Discountern und Supermärkten, die für Renner gewöhnlich bis zu dreißig Prozent Preisnachlass gewähren: Eine strategisch überlegte Maßnahme zur Förderung des klassischen stationären Buchhandels.
(5) Kann so etwas – 50 Prozent Abschlag vom Ladenpreis an den Kunden! – aber dem Buchhandel denn überhaupt nützen und etwas bringen? Aber ja. Auch hier greift nämlich ein wohlüberlegtes Novum von Modell: Der Sortimenter sammelt die bei ihm eingelösten Gutscheine für das jeweilige „Buch des Monats“ vom Daily Mail und sendet sie am Monatsende an die Gutschein-Organisation, die sie ihm daraufhin gutschreibt, und diese Gutschrift wird vom Verlag des Buches finanziert – eine hervorragende neue Gemeinschafts-Marketingaktion der Verlage mit dem Buchhandel!
(6) Wahnsinn, hören mein Freund Volker Hasenclever und ich, die wir diese Aktion übers Wochenende analysiert haben, schon Kollegen in den Verlagen aufschreien: „Wie können und sollen denn britischen Kollegen das bezahlen!?“ Also: Die britischen Kollegen beißen keineswegs auf ihren Fingernägeln. Sie sind überglücklich. So hat David Ward, Vertriebsleiter bei Bloomsbury (London) erklärt: „Wir sind hocherfreut, mit einem unserer Titel dabei sein zu dürfen.“ Die Sache kostet sie nämlich kaum mehr als eine größere Werbeaktion, nur ist sie aller Wahrscheinlichkeit nach sehr viel effektiver. Die Daily Mail wird nämlich jedes ihrer Bücher des Monats zur Einführung von einer Celebrity, welche gerade von diesem Titel begeistert ist, prominent vorstellen lassen. Außerdem werden Interviews mit den Autoren gebracht, und die Autoren werden in der Zeitung auf Leserfragen antworten: Eine exzellente Pressearbeit von gigantischen Ausmassen. Bloomsbury hat für seinen Barbara Trapido-Titel aufs erste gleich 50.000 Exemplare nachgedruckt.

Die Initiative ist von einer Zeitung ausgegangen. Die Verlage haben mitgespielt- Doch nun der Clou: Machbar ist die ganze Aktion – auch logistisch – erst dank der Mitarbeit des Marketing-Unternehmens National Book Tokens geworden. Das wiederum ist eine Tochter des britischen Buchhändlerverbandes. Was zu Nutz und Frommen des Buchhandels und der Verlage hat in den vier Jahren seit seiner Gründung eigentlich unser MVB gemacht – die Marketingtochter des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels?

Aber in Deutschland wäre so etwas doch gar nicht möglich! Wegen der Preisbindung! Wirklich?

Warum setzt man sich nicht endlich einmal hin, um nach neuen Wegen zu suchen, die bei uns im Rahmen der Preisbindung durchaus möglich wären?

Gerhard Beckmann sagt hier regelmäßig seine Meinung … und freut sich über Antworten an GHA-Beckmann@t-online.de. Natürlich können Sie diese Kolumne auch im BuchMarkt-Forum diskutieren. Einfach oben auf der Seite den Button „Forum“ anklicken, einloggen und los geht‘s.

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