Die Rechte-Kolumne Rainer Dresen: Noch eine ganze Wahrheit?

Norbert Gstrein, ein ehemaliger Suhrkamp-Autor, wird bei seinem aktuellen Verlag Hanser in wenigen Wochen ein Buch mit dem Titel „Die ganze Wahrheit“ veröffentlichen. Gstrein beschreibt in dem Mitte August erscheinenden Werk, dessen Titel an das über alle Maßen erfolgreiche erste Enthüllungsbuch von Dieter Bohlen über die Showbranche unter dem Namen „Nichts als die Wahrheit“ erinnert, laut „Welt“ und „FAZ“ die Erlebnisse eines Lektors in einem fiktiven kleinen und feinen Wiener Verlag.

Dort war alles in bester Ordnung, solange der geschätzte Altverleger, Ehemann seiner attraktiven blonden Verlegergattin, noch lebte. Nach seinem Tod jedoch ging es drunter und drüber. Die Verlegerwitwe übernahm die Macht. Alkohol, Sex, Antiamerikanismus, Okkultismus und andere seltsame Beschäftigungen wie Voodoo oder Hexerei hielten im Verlag Einzug. Als die Verlegerwitwe auch noch ein Buch über das Sterben des Über-Verlegers schrieb, war das Maß voll für den Gstrein-Erzähler: Er verweigerte die Lektoratsarbeit und wurde gefeuert.

Vielleicht denkt jetzt der eine oder andere „Kommt mir irgendwie bekannt vor, da gab es doch tatsächlich mal einen Verlag, ich komme jetzt grad‘ nicht auf den Namen, über den das eine oder andere dieser Details früher mal kolportiert wurde.“ Ein kleiner Tip, Suhrkamp jedenfalls kann nicht gemeint sein, denn dort ist das Verlegerinnenhaar bekanntlich schwarz und der aktuelle Verlagssandort ist weiter entfernt von Wien denn je. Außerdem, so erklärt der Autor Gstrein augenzwinkernd, sei Suhrkamp anders als der fiktive ja ein großer und bedeutender Verlag und Okkultismus dort schlechterdings unvorstellbar.

Immerhin, so offen ist Gstrein dann doch auf Nachfrage von Journalisten, erinnere die Konstellation seines Werks an Suhrkamp. Die Feuilletonisten von Welt und FAZ bezeichnen „Die ganze Wahrheit“ nicht zuletzt deshalb als „Schlüssel-(loch) Roman“ und fragen ganz offen, ob dieser wohl ein Fall für die Gerichte wird. Auf die Nachfrage des SPIEGEL zu diesem Risiko sagt Gstrein fatalistisch: „Klagen kann man immer.“

Im Buch selber spielt der Erzähler wie einst Maxim Biller ganz offen mit dem Rechtsrisiko. Er erzählt, dass er aus Angst vor einem berüchtigten „Verlagsjuristen“ überlegt habe, Änderungen am Text seiner Erzählung vorzunehmen und etwa den Verlagssitz von Wien Berlin zu verlegen, dies dann aber doch nicht getan habe.

Weniger offen erwähnt, gleichwohl vermutlich rechtlichen Überlegungen geschuldet sind gewisse Vorkehrungen, die Verlag und Autor vermutlich bewusst gegen Klagerisiken getroffen haben. Neben Verfremdungen wie etwa der Tönung der Verlegerhaare (nicht etwa schwarz, sondern blond) und der Wahl des Verlagssitzes (nicht etwa Frankfurt oder Berlin, sondern Wien) war möglicherweise auch eine vor kurzem, und damit schon einige Wochen vor Buchveröffentlichung, absolvierte öffentliche Lesung und ein Vorabdruck in einer Schweizer Zeitschrift wohlüberlegt. Durch diese ersten öffentlichen Schritte wurden jedenfalls potentielle Kläger auf die Causa aufmerksam und in gewisser Weise unter Zugzwang gesetzt. Wer nämlich von einer möglichen Persönlichkeitsrechtsverletzung Kenntnis erlangt und dagegen im Eilverfahren, also durch einstweilige Verfügung, vorgehen will, sollte nicht länger als vier Wochen nach Kenntnis von den relevanten Umständen zuwarten, um nicht den sogenannten Dringlichkeitsanspruch zu verwirken.

Wenn es dann eine gerichtliche Auseinadersetzung um den Roman gäbe, müsste wie stets in derartigen Fällen die Kunstfreiheit gegen die Verletzung von Persönlichkeitsrechten abgewogen werden. Die grundgesetzlich geschützte Kunstfreiheit ist ein sehr hohes Gut. Sie kann auch nach dem Esra-Urteil des Bundesverfassungsgerichts dafür sorgen, dass im Roman vorkommende, erkennbare Personen Beeinträchtigungen ihres Persönlichkeitsrechtsschutzes hinzunehmen haben. Dies gilt nur dann nicht, wenn ein Roman real identifizierbare Personen in – erfundene oder reale – intime Lebensumstände setzt.

Übrigens, und darauf weist uns eben der damals noch für Heyne den ersten Bohlen durchgesetzt habende heutige HoCa-Geschäftsführer Markus Klose (zum Glück ohne Einschaltung eines gefürchteten Verlagsjuristen) hin, gab es gegen „Nichts als die Wahrheit“ ganz im Gegensatz zu Bohlens-Nachfolgetitel „Hinter den Kulissen“ trotz aller rechtlichen Brisanz keine einzige Klage. Vielleicht also wird sich „Die ganze Wahrheit“ nicht nur an Bohlens Titel, sondern auch an seiner fehlenden Gerichtshistorie orientieren und völlig unbehelligt seinen Platz im Handel und bei den Lesern finden.

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