Beckmann kommtiert Wissen Buchhändler vor lauter Innovationen schon gar nicht mehr, wie sie Bücher verkaufen können?

– Oder machen Verlage da etwas grundfalsch?

Meister des starken und lauten Wortes gab es in meiner Jugend unter den Gütersloher Pfarrern. Sonntag für Sonntag riefen sie die Leute auf, sich zu bekehren, diese Evangelikalen wie Pastor Koeker, ein ums andere Mal. Der Lehrer Güthenke, ein durchaus religiöser Mensch, meinte schließlich: „Wenn wir auf die hörten, würde uns ganz schön schwindlig.“ Es saßen doch immer dieselben Leute im Kirchenschiff, die zu Kehrtwende und Umkehr aufgerufen wurden. Die Sache drehte sich also bei den Bekehrten im Kreise. Niemand hörte mehr richtig hin, man war ja schon bekehrt. Diejenigen, die noch zu bekehren gewesen wären, aber blieben draußen und verstanden überhaupt nicht, warum sie sich hätten bekehren lassen sollen: Waren sie nicht ohnehin allemal Christen?

An die Stelle dieser Pfarrer von damals sind in der heutigen Gesellschaft – das gilt auch für die Buchbranche – getreten: Agenturen, Berater, Consultants, Funktionäre, Politiker, Technologen, Heerscharen von Therapeuten und Manager mit BWL-Hintergrund, allesamt mit hochentwickeltem PR-Sinn. Predigen tun auch sie unermüdlich, allerdings hauptsächlich werktags, auf Seminaren und in den Medien. Ihr Stichwort lautet nicht: Bekehrung. Es heißt: Innovation.

Und wer auf sie hörte, dem bliebe kaum mehr Zeit für anderes als Innovationen hier, Reform(ation)en da, Therapien hoppsassa, alles hübsch verbunden mit modernen Kirchensteuerarten und Klingelbeuteln als da wären Verbands- und Vereinsbeiträge, Beratungshonorare, Schulungskosten, Seminar- und Tagungsgebühren. Und schwindlig werden kann einem auch ganz schön von diesem Innovationskarussell. Es dreht sich ja ebenfalls im Kreise (oder fährt Achterbahn) mit immer gleichen Insassen. Die übrigen, die meisten, denen die Innovationen eigentlich gelten, bleiben am Ende außen vor, weil sie gar nicht mehr verstehen, wozu das alles gut sein sollte. Und sind genervt: von einer allgemeinen Verunsicherung.

In der Bücherecke sind es vor allem diejenigen, auf die solche Innovationen eigentlich abzielen: die Buchkäufer und -leser.

(Die Kirchen haben sich übrigens trotz – oder gerade wegen – der „Bekehrten“ drinnen weiter geleert, obwohl die Botschaft des Evangeliums, wohlverstanden und -vermittelt und -vorgelebt, statt eines sozusagen bloß binnenbetriebsam spirituellen Drehkollers mehr zu bieten und gewiss interessante neue Lebenshorizonte hätten öffnen können. So half es wenig, wenn in der vollen Gütersloher Martin-Luther-Kirche Pastor Worthmann zu Weihnachten den holdseligen Dämmerschein von Christbaum und Krippe mit Normallicht übergrellen ließ, um den Festtagsgästen seinen gewaltigen Zorn über ihre Sünden ins Gesicht zu schleudern.)

Keine Frage: Innovationen sind notwendig, und sehr sehr wichtig. Muss es aber denn jedes Mal gleich eine Systemänderung sein? Ein Mentalitätswechsel? Die Installierung neuer Kommunikationswege zwischen Verlagen und Buchhandel? Eine ganze Bewegung zur Erweckung von Leidenschaft und Engagement, wie sie angeblich „früher“ existierten und nun verschütt gegangen sein sollen? Gleich ein neuartiges Megakampagnen-Modell? (War die Harry Potter-Kampagne der letzten Jahre vielleicht weniger neuartig, innovativ, sensationell oder wirksam als das eine oder andere Superspektakel aus dem Geschichtsbuch der 1960er Jahre?)

Ginge es nicht ein bisschen bescheidener, pragmatischer, praktischer? Wäre nicht schon viel damit gewonnen, wenn beispielsweise der Buchhandel manchmal ganz einfach und altmodisch ein bisschen mehr nachdächte und Chancen sähe, wo Chancen sind, und die Chance auch dementsprechend ergriffe?

Solche Fragen gehen mir nicht aus dem Kopf, seit ich beobachte, was Sortimenter aus der Simenon-Offensive des Diogenes Verlags machen – oder eben nicht machen.

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Seit Anfang April bringt Diogenes den ganzen Simenon neu heraus. Das ist schon mal eine große Sache.

Zunächst alle Maigret-Romane, 75 Titel, Monat für Monat vier an der Zahl. Wieder was Besonderes: ein Großprojekt, das auf Langzeit-Entfaltung und Wirkung angelegt ist. Gerade insoweit es die berühmte Mundpropaganda betrifft.

Obendrein ist es hinsichtlich der Preise eine fantastische Kampagne (wie sie ja immer wieder von Verlagen eingefordert worden ist): Alle Bände erscheinen als schicke, kleinformatige feste Pappbände in einem wunderbar trendigen Retro-Look zu je 9,00 Euro (ideale Geschenk- und Sammlerbände), gleichzeitig jedoch auch als hervorragend hergestellte höchst preiswerte Taschenbücher zwischen 6,90 und 8,90 Euro (wie sie ebenfalls immer wieder herbeigeschrien wurden).

Und es läuft eine phänomenale Medien- und Öffentlichkeitskampagne. In allen Blättern und Feuilletons läuten Glocken für Simenon, laufen lange lebendige, informative Geschichten, wie sie weiterlaufen werden. Denn im September wäre Georges Simenon hundert Jahre alt geworden.

Zudem ist Simenon ein Jahrhundert-Autor, ein literarischer Leuchtturm, der auch nicht veraltet oder „überholt“ ist.

Und wenn immer wieder betont wird, die Lektüre von Belletristik – selbst von Krimis – sei inzwischen überwiegend Frauensache, bitte schön: Es gibt kaum einen anderen Meister des literarischen oder populären Fachs mit größerem, wohlwollenderen Verständnis und treffenderen Darstellungen von Frauencharakteren und -schicksalen als Simenon.

Also gut – vor ein paar Jahrzehnten gingen die Backlist-Verkäufe hier rapide zurück. Doch Simenon ist – wie Maigret – ein Markenname. Das hat sich im Rahmen der SZ-Bibliothek gezeigt. Simenon zählte dort zu den beliebtesten und meist gekauften Autoren. Von jedem seiner drei Titel wurden rund eine Million Exemplare abgesetzt. Damals ist weithin gefragt worden: Warum machen die Verlage so etwas nicht selber? Und nun macht Diogenes es mit Simenon.

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Ich bin durch etliche Buchhandlungen gegangen und habe nach den neuen Simenons gesucht (nicht zuletzt, um den einen oder anderen Titel zu kaufen und zu verschenken, weil ich selbst gerade in nicht-euphorischen Momenten kaum eine andere so befriedigende und tröstliche Lektüre und Wiederlektüre kenne).

Hier und da habe ich gar nichts gefunden, sonst wo nur die neuen TBs oder die neuen HC-Titel, ganz gelegentlich beides, doch überall höchstens mal je zwei Exemplare. Wenn ich etwa zwei Wochen später erneut vorbeischaute, waren sie weg, folglich ist nichts nachbestellt worden.

Als ich in einer Großbuchhandlung gar nichts finden konnte, bat ich – weil es mir unvorstellbar schien – eine Sortimenterin um Hilfe. Sie fand gleichfalls nichts, konnte es ebenso wenig fassen, schaute im Computer nach, und siehe da, ein paar HC-Bände hätten da sein müssen. Es dauerte dann ein paar Minuten, bis sie die Romane in der Auslage entdeckte. Bei meinem nächsten Besuch waren alle verschwunden, und von der inzwischen erfolgten neuen Lieferung null-komma-nichts zu sehen. Im TB-Krimi-Regal herrschte, wo Simenon hätte stehen können, nach wie vor Leere.

Nirgends – ich wiederhole: nirgendwo war ein Stapel aufgetürmt, eine Sonderauslage eingerichtet, ein Plakat oder sonst welcher Hinweis gehängt worden.

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Also: Was sollen dem Buchhandel Innovationen und neue Geschäftsmodelle bringen,
wenn er schon sein Geschäft nicht mehr versteht?

Findet bei ihm denn gar keine qualifizierte Auswahl und Traktierung von Novitäten mehr statt?

Ist keine Zeit mehr für die Basics des Handelns und Verkaufens?

Oder, bitte sehr: Sollte etwa der Diogenes Verlag in dieser Simenon-Sache doch etwas falsch gemacht haben?

Gerhard Beckmann freut sich über Antworten an GHA-Beckmann@t-online.de

(Die vorige Kolumne finden Sie hier [mehr…]. Weitere Beiträge der Kolumne „Beckmann kommentiert“ im Archiv unter dem Stichwort: „beckkomm“.)

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