Auf Platz 1: Aleš Šteger: "Neverend" (Wallstein Verlag)   Die SWR-Bestenliste für den Juni ist da!

Renommierte Literaturkritiker*innen nennen monatlich – in freier Auswahl – vier Buch-Neuerscheinungen, denen sie möglichst viele Leser*innen wünschen, und geben ihnen Punkte (15, 10, 6, 3).

1.Aleš Šteger: Neverend; Übersetzt aus dem Slowenischen von Matthias Göritz und Alexandra Natalie Zaleznik, Wallstein Verlag
Eine Schriftstellerin mit Schreibkrise, die im Gefängnis Creative Writing lehrt. Die Geschichten der Gefangenen stehen im Buch; der Roman der Schriftstellerin ebenfalls. Im echten Leben zerfällt die von Ideologien zerfressene EU, und der Jugoslawienkrieg hallt in den Erzählungen nach.

 2.Ilya Kaminsky: Republik der Taubheit  Übersetzt aus dem Englischen von Anja Kampmann, Hanser Verlag

Ein erzählendes Gedicht, mit Handlung. Kaminsky, in Odessa geboren, lebt in den USA. Er intoniert einen Chor: Als ein kleiner tauber Junge erschossen wird, rebellieren die Einwohner einer besetzten Stadt gegen die Besatzer, indem sie sich nur noch in Gehörlosensprache verständigen. Sprache ist Macht.

3.Fran Lebowitz: New York und der Rest der Welt Übersetzt aus dem Englischen von Sabine Hediger und Willi Winkler, Rowohlt Berlin

Martin Scorsese widmete ihr eine eigene Netflix-Serie. Beobachtungen aus dem New Yorker Alltag füllt Lebowitz mit Bedeutung. Es geht um Sport, Familienplanung, Rauchen, Haustiere, Ernährung und Kunst. Die Texte sind glänzend gealtert – sehr böse, sehr intelligent und ausgesprochen lustig.

4. Adania Shibli: Eine Nebensache Übersetzt aus dem Arabischen von Günther Orth, Berenberg Verlag

Im August 1949 greifen israelische Soldaten im Negev ein Beduinenmädchen auf. Sie vergewaltigen das Mädchen und erschießen es. Mehr als 50 Jahre später stößt eine Frau in der Zeitung auf den Vorfall und beschließt, dem Schicksal des Mädchens noch einmal nachzugehen. Das kann nicht gut enden.

5.Martin Walser, Cornelia Schleime: Das Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf, Rowohlt Verlag

Pünktlich zum 95. Geburtstag Walsers ein Buch voller Träume gegen eine nur noch als öde empfundene Wirklichkeit. Das „Traumbuch“ lässt sich als radikal konzentrierte Lebensbilanz lesen, manchmal ausgesprochen komisch, mal altersmilde, mal melancholisch. Aber in jedem Satz geht es dann doch ums Ganze.

6.Claudio Magris: Gekrümmte Zeit in Krems Erzählungen. Übersetzt aus dem Italienischen von Anna Leube, Hanser Verlag

Fünf Geschichten, die zu schweben scheinen. Die Prosa des 82-jährigen Magris besteht aus einem Erinnerungsstrom, der die Zeit noch einmal aufhebt, bevor sie zu Ende geht. Keine spektakulären Wendungen mehr. Es muss sich dabei nichts runden. Lebensbilanz ziehen heißt nicht, dass am Ende alles gut ist.

6.Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins Homunculus Verlag

Ksenia Lindau kommt im Alter von vier Jahren gemeinsam mit ihren Eltern von Russland nach Deutschland. Sie wächst unter den Zeugen Jehovas auf. Eine fragile Existenz, pendelnd zwischen zwei Sprachen und Herkunftsterritorien, zwischen Pflichten und Bedürfnissen. Die Sehnsucht dahinter: endlich ankommen.

8.Tomas Venclova: Variation über das Thema Erwachen Gedichte. Übersetzt aus dem Litauischen von Cornelius Hell, Hanser Verlag

Ein Alterswerk von hoher Verdichtung, sprachlicher Souveränität und einem melancholischen Grundgefühl. Hier nimmt einer Abschied und beschäftigt sich auf intensive Weise mit dem Tod. Der litauische Dichter soll all seine Gedichte und die seiner Freunde auswendig vortragen können. Sie sind ihm Halt und Selbstvergewisserung.

9.Ádám Bodor: Die Vögel von Verhovina Übersetzt aus dem Ungarischen von Timea Tankó, Secession Verlag

Siebenbürgen, Transsilvanien, die alten Mythen, die aufgeladene Gegenwart, die unselige kommunistische Vergangenheit. Im Original 2011 erschienen, ist Bodors Roman ein an Motiven, historischen Referenzen, literarischen Verknüpfungen und landschaftlicher Verdichtung ungemein reiches Buch.

9.Imre Kertész: Heimweh nach dem Tod Übersetzt aus dem Ungarischen von Pál Kelemen und Ingrid Krüger, Rowohlt Verlag

Der „Roman eines Schicksallosen“ ist ein Jahrhundertwerk und brachte seinem Autor den Nobelpreis ein. Auf diesen posthum aufgefundenen Tagebuchseiten kann man dem Entstehungsprozess zusehen: Hier ringt ein großer Autor mit seinem Stoff, sucht eine Form und lebt in ständiger Angst davor, banal zu werden.

9.Karl Ove Knausgård: Der Morgenstern Übersetzt aus dem Norwegischen von Paul Berf, Luchterhand Literaturverlag

Ein scheinbar friedlicher Sommer in Norwegen, in dem die Welt aus dem Gleichgewicht gerät. Am Himmel taucht ein bislang unbekannter Stern auf. Eine Verheißung? Und wenn ja, wofür? Knausgårds Detailversessenheit, seine Archäologie des Alltags, fallen zusammen mit einem existentialistisch aufgeladenen Tonfall.
9.Wolfram Lotz: Heilige Schrift I S. Fischer Verlag

900 Seiten Tagebuch aus vier Monaten Lebenszeit. Philosophisches und Banales, die Katze des Nachbarn, Gedanken über Miley Cyrus, der Himmel über dem Elsass, die Weltpolitik. Der Dramatiker Wolfram Lotz hat sich mit seiner Familie aufs Land zurückgezogen. Er setzt neu an mit dem Schreiben. Dies ist erst der Anfang.

 


Die Jury Gerrit Bartels (Berlin) │Helmut Böttiger (Berlin) │ Michael Braun (Heidelberg) │ Gregor Dotzauer (Berlin) │ Martin Ebel (Zürich) │ Eberhard Falcke (München) │ Cornelia Geißler (Berlin) │ Sandra Kegel (Frankfurt) │ Dirk Knipphals (Berlin) │Sigrid Löffler (Berlin) │ Ijoma Mangold (Berlin) │ Klaus Nüchtern (Wien) │ Jutta Person (Berlin) │ Wiebke Porombka (Berlin) │ Iris Radisch (Hamburg) │ Ulrich Rüdenauer (Bad Mergentheim) │ Denis Scheck (Köln) │ Marie Schmidt (München) │ Christoph Schröder (Frankfurt) │ Julia Schröder (Stuttgart) │ Gustav Seibt (Berlin) │ Shirin Sojitrawalla (Wiesbaden) │Hubert Spiegel (Frankfurt) │ Nicola Steiner (Zürich) │ Daniela Strigl (Wien) │ Beate Tröger (Frankfurt) | Kirsten Voigt (Baden-Baden) │ Jan Wiele (Frankfurt) │ Insa Wilke (Berlin) │ Hubert Winkels (Köln)

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