Veranstaltungen Frankfurt: Shortlist-Lesung erstmals im Schauspiel

Stephan Thome, Susanne Röckel und Maria Cecilia Barbetta

Am Sonntagabend, 23. September, fand im Schauspiel Frankfurt die traditionelle Shortlist-Lesung zum Deutschen Buchpreis mit vier der sechs nominierten Autoren statt. Nino Haratischwili fehlte, weil sie zur Europa-Premiere ihres Theaterstücks in Georgien war; Max Biller befand sich ebenfalls im Ausland.

Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig begrüßte die knapp 700 Zuschauer: „Schön, ein so volles Haus zu sehen.“ Alle Bücher auf der Shortlist, so unterschiedlich sie sein mögen, würden Grenzen überwinden in einer Zeit, in der andere Grenzen aufbauten.

Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses Frankfurt, freute sich über das große Interesse: „Hier im Saal lasen bereits Isabelle Allende und Herta Müller vor vollen Rängen. In der Literatur geht es um Annäherung, an diesem Abend um die Annäherung an die Shortlist-Autoren und ihre Romane.“

Der Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Alexander Skipis erklärte: „Den Ort für die Shortlist-Lesung zu wechseln war ein Wagnis. Das Literaturhaus hat 200 Sitzplätze und war nach fünf Minuten ausverkauft, beim Schauspiel mit rund 700 Plätzen hat es eine Woche gedauert.“ Das sei zwar hervorragend, dennoch stehe die Buchbranche unter enormem Druck. „Sandra Kegel hat uns Beine gemacht mit bitteren Feststellungen zu Leser- und Käuferschwund. Wir haben in einer Studie herausgefunden, dass die Menschen unter den sozialen Medien leiden, weil sie immer dabei sein müssen.“ Es sei an der Zeit, den Wert des Buches für den Einzelnen stärker herauszustellen. „Wir sind in der Buchbranche davon überzeugt, einen Beitrag zur freien Gesellschaft zu leisten. Aber wir alle tragen Verantwortung für unser Gemeinwesen. Freiheit wird eingeschränkt, wenn wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund rücken. In Saudi-Arabien wird der Blogger Raif Badawi mit Auspeitschung bestraft und inhaftiert. In der Türkei saß die Schriftstellerin Aslı Erdoğan im Gefängnis. Der Besuch des türkischen Präsidenten ist skandalös und das Staatsbankett ein Schlag ins Gesicht aller Inhaftierten sowie die Aufwertung eines Despoten“, urteilte Skipis und erhielt für seine Worte viel Beifall.

Der Börsenverein werde am 28. September eine Lesung aus Werken inhaftierter Autoren organisieren, die über einen Livestream mitverfolgt werden kann.

Inge-Maria Mahlke und Sandra Kegel

Das erste Doppel bestritten Inger-Maria Mahlke und Moderatorin Sandra Kegel, F.A.Z. Mahlke war trotz Erkältung nach Frankfurt gekommen, das wurde ihr hoch angerechnet. Ihr Roman Archipel, bei Rowohlt erschienen, ist eine große Reise durch Teneriffa, die 2015 beginnt, rückwärts erzählt wird und 1919 endet. „Hat eine Insel etwas Besonderes?“, fragte Kegel. „Ja, sie erlaubt einen anderen Blick aufs Festland, und man kann nicht so leicht fliehen“, antwortete Mahlke, die ihre Kindheit in Lübeck und auf Teneriffa verbrachte. „Teneriffa war der Gegenentwurf zur europäischen Vorstadtkindheit. Der Roman ist der Versuch, unterschiedliche Welten in Einklang zu bringen.“ Kegel wies auf die Schwierigkeit des Rückwärtserzählens für den Leser hin; eigentlich müsse man das Buch zweimal lesen. Umso hilfreicher sei das Register im Buch.

Mit Stephan Thome sprach Alf Mentzer, hr2-kultur. Beide unterhielten sich über Gott der Barbaren, publiziert im Suhrkamp Verlag. Bereits Thomes Romane Grenzgang (2009) und Fliehkräfte (2012) standen auf der Shortlist. Mit seinem vierten Roman ist der in Taipeh lebende Autor erneut unter den Nominierten. Diesmal geht Thome, Philosoph und Sinologe, vom historischen Taiping-Aufstand in China um 1860 aus. „Ich musste viel recherchieren, das war eine neue Herausforderung“, bekannte der Schriftsteller und China-Experte. „In Fliehkräfte schrieben Sie, ‚Prinzipientreue ist die Tofuwurst unter den Tugenden. Fleischlos und fade.’ Hatten Sie nun ein Werk von Tolstoischer oder Homerscher Gewichtsklasse im Blick?“, wollte Mentzer wissen. Thome lachte: „Nein, zum Glück kam mir dieser Gedanke nicht. Die Geschichte hat mit der ersten Stadt, die ich während meines Studiums besuchte, zu tun. Ich hatte das Gefühl, dieses Buch schreiben zu müssen.“ Thome nutzt sowohl historisch verbürgte Figuren als auch erfundene wie den deutschen Missionar Philipp Johann Neukamp. Im Roman spielt Religion eine große Rolle. Doch ist das Buch mit europäischen Maßstäben nicht einzuordnen.

Susanne Röckel studierte Romanistik und Germanistik und ist auch als Übersetzerin tätig. Mit Der Vogelgott, herausgekommen bei Jung und Jung, legt sie ein verstörendes Buch vor. „Hitchcocks Vögel sind nichts dagegen“, urteilte Gesprächspartnerin Sandra Kegel. Röckel hatte eigentlich über einen aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten schreiben wollen, der zuhause mit seinen Erlebnissen nicht mehr zurande kommt. „Es hat sich aber etwas Anderes herauskristallisiert“, sagte die Autorin, die der Frage nach dem Bösen auf den Grund kommen wollte. Das Buch sei keine Fantasie-Geschichte, sondern die Darstellung einer inneren (bösen) Kraft. Tatsächlich sei es eine Horrorgeschichte, eine positive Macht gebe es nicht, auch keinen Ausweg. „Die Natur schlägt zurück, so könnte man es lesen“, sagte Röckel. Es sei ihr auch um die Auflösung von Grenzen – zwischen Mensch und Tier, Realität und Wahn – gegangen. „Ein unheimliches Buch“, bemerkte Kegel.

Im letzten Shortlist-Gespräch saßen Maria Cecilia Barbetta und Insa Wilke einander gegenüber. 2008 kam Barbettas erster Roman Änderungsschneiderei Los Milagros heraus. In Nachtleuchten, bei S. Fischer erschienen, bleibt sie ihrer argentinischen Heimat treu. Es geht um die Jahre 1974/75, das Buch ist den Großeltern gewidmet. „Sie waren mir Rückzugsort und brachten mir den Glauben an die Menschheit bei“, sagte Barbetta und erzählte eine Anekdote. Als sie mit ihrer Mutter das erste Mal in den deutschen Kindergarten in Argentinien geht, bleibt sie vor dem Zaun stehen und sagt: „Mama, die Tanten streiten sich!“ Darauf die Mutter: „Nein, sie sprechen Deutsch.“ Barbetta erinnerte sich an die Zeit: „Wir haben einmal in der Woche auf Deutsch gesungen, das war eine dadaistische Vorstellung.“

Im Roman gibt es zwar keine deutschen Figuren, aber schließlich sei er ja auf Deutsch geschrieben. Die Autorin hat, da diese Sprache nicht ihre Muttersprache ist, einen anderen Zugang und verwendet sie überraschend und ambivalent. Witzige und enthusiastische Personen bevölkern Barbettas Buch, die politischen Verhältnisse bleiben im Hintergrund.

Nach der mehr als zweistündigen Shortlist-Lesung konnten die Zuhörer die Bücher am Stand der Buchhandlung Land in Sicht erwerben und sich so im Detail über die Romane des Jahres informieren.

JF

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