Gerhard Beckmanns Meinung – Aufschlussreiche Erhebungen über Bibliotheksausleihen und Leseverhalten in Großbritannien: Warum fehlt Ähnliches in Deutschland?

Was geht uns, in Deutschland, die Statistik der jährlich meistausgeliehenen Bücher und Autoren in den öffentlichen Bibliotheken Großbritanniens an?

Mehr, als man auf den ersten Blick meinen könnte, wie Sie am Ende sehen werden.

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Die neuesten Zahlen, für den Zeitraum vom Juli 2002 bis Juni 2003, zu den 100 beliebtesten Einzeltiteln verraten:
—–Es handelt sich nur um erzählende Literatur.
—–Die Titel stammen von 35 Autor(inn)en, die bis auf ganz wenige Ausnahmen mit mehreren Werken vertreten sind – an der Spitze mit 20, 10 und 6 Titeln. Und das heißt, die Ausleiher sind in hohem Maße auf bestimmte Namen und die mit ihnen verbundenen schriftstellerischen Qualitäten fixiert.
—–Das Verhältnis von Autorinnen und Autoren ist 4 zu 1. Folgerung: Da nach andern neuen britischen Erhebungen das männliche Geschlecht sich in der Regel nicht für Erzählungen von weiblichen Verfassern interessiert, leihen vor allem Frauen Bücher aus.

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Nicholas Clee, der Chefredakteur der Londoner Fachzeitschrift The Bookseller hat an Hand weiterer Informationen im kursiv Anfang Guardian Ende kursiv im übrigen analysiert:
—–Unter den Verfasser(inne)n der 100 meistausgeliehenen Titel gibt es lediglich zwei (J.K. Rowling und Kathy Reichs), die in den letzten fünf Jahre schriftstellerisch debütierten. Bibliotheksfavoriten sind also generell längerfristig etablierte Autor(inn)en Auch von den Neuerscheinungen sind es deren Titel, welche hier die größte Leserschaft finden. Anders formuliert: Selbst phänomenale Erfolge neuer Bestseller-Autoren, kurzfristige Moden im Buchhandel und Medienhype schlagen auf die Lesegewohnheiten der Mehrheit der Bibliotheksbenutzer kaum durch.

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Hochliterarische Autoren, literarische Verlage und Literaturpreise tauchen in den „Bestlese“-listen der Bibliotheksausleihe überhaupt nicht auf. Typisch ist für sie die sogenannte „middle brow“- Literatur, d.h. nach deutscher Klassifizierung „Unterhaltungsliteratur“ – auch da freilich kaum Neu-Modisches.
—–Es gibt demnach abseits vor von Bestsellerlisten und Medien registrierten Bücher noch eine andere, breite und erstaublich beständige Lesekultur.
—–Ein im Auslauf befindliches Relikt aus früheren Zeiten? Die Zahl der Ausleihen ist über ein Jahrzehnt lang um ein Drittel gesunken, steigt neuerdings aber – so Jim Parker, der Statistiker der britischen Public Lending Right- Organisation.(PLR) – wieder an.

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Den größten Teil der Bibliotheksausleiher bilden Menschen ab 40, noch stärker ab 50 – und Kinder unter 12 Jahren (was, soviel wissen wir generell, cum grano salis auch hiesigen Verhältnissen entspricht).
—–Das spiegelt ein zunächst erstaunlich wirkendes Faktum der neuen Jahreslisten: 25 der hundert meist ausgeliehenen Titel sind Kinderbücher.
—–Eine zweite Überraschung: Die 8 Spitzen-Reiter unter den Schriftsteller(inne)n, deren Bücher insgesamt über eine Million mal ausgeliehen wurden, sind zur Hälfte (!) Kinderbuchautor(inn)en: Jacqueline Wilson, Mick Ingpen, R.L. Stine sowie Janet und Allen Ahlberg.
—–Das absolute Novum: Achtzehn Jahre lang hat die Unterhaltungsschriftstellerin Catherine Cookson die Liste der Autor(inn)en mit den insgesamt meistausgeliehenen Werken angeführt. Diese Position hat jetzt – erstmals – eine Kinderbuchautorin übernommen: Jacqueline Wilson, mit mehr als zwei Millionen Ausleihen.
—–Zwei der vier Klassiker mit dem meistausgeliehen Gesamtwerk – wiederum die Hälfte – sind Kinder- und Jugendbuchautoren: A.A. Milne („Winni der Bär“) und Beatrix Potter.

Als Hinweis fürs Sortiment: Jacqueline Wilson ist auf Deutsch erschienen bei Oetinger, Carlsen, Aare, Heyne und vgs. Mick Ingpen ist in Übersetzung herausgekommen in den Verlagen Baumhaus, Brunnen, Coppenrath, Oncken und Ravensburg. Werke von R.L. Stine sind bei Loewe und C. Bertelsmann verlegt worden. Der deutsche Verlag des Autorenduos Janet & Allan Ahlberg bei Oetinger.

Warum sind diese Zahlen über Großbritannien hinaus, generell interessant?

Man hört in Deutschland neuerdings hier und da wieder ein leises Wiehern über die von den Verkaufszahlen abgeleiteten Schlüsse über das Leseverhalten der Bevölkerung. Dass Bücher gekauft werden, heißt es – allerdings mit fragwürdigem Recht – bedeutet ja noch lange nicht, dass sie auch gelesen werden.

Bei Bibliotheksausleihen aber wird – mit größerem Recht – angenommen, dass diese Bücher tatsächlich gelesen werden. Insofern sind die Zahlen höchst aufschlussreich für das allgemeine Leseverhalten. Ohne solche Erhebungen lässt sich das Leseverhalten der breiten Bevölkerung wahrscheinlich gar nicht erfassen.

Für Deutschland liegen jedoch solche wichtigen Zahlen veröffentlicht nicht vor. Dabei haben wir hier zu Lande durchaus eine dem PLR vergleichbare Institution, deren primäre Aufgabe in erster Linie ebenfalls darin besteht, den Urhebern der Bücher für Bibliotheksausleihen (und Kopieren) ein verdientes Honorar zu sichern: die VG Wort. Sie aber kann – aus Datenschutzgründen – oder will sie nicht bekannt machen.

Es würde sich lohnen. Methodisch wird in Deutschland nämlich auf eine mit Großbritannien vergleichbare Weise vorgegangen, so dass ähnlich aufschlussreiche Ergebnisse auch bei uns möglich wären. Und Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, Buchhandlungen, Verlagen und Bildungspolitikern wäre mit solchen Zahlen und Erkenntnissen sehr gedient. Sie würden dem berühmten Stochern im Nebel über die tatsächliche Lesekultur der Bevölkerung ein Ende bereiten und für viele Entscheidungen eine bessere, sichere Grundlage bieten.

Gerhard Beckmann sagt hier regelmäßig seine Meinung … und freut sich über Antworten an GHA-Beckmann@t-online.de. Natürlich können Sie diese Kolumne auch im BuchMarkt-Forum diskutieren. Einfach oben auf der Seite den Button „Forum“ anklicken, einloggen und los geht’s.

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