Dotiert mit 10.000 Euro Heinrich-Mann-Preis 2022 an Lothar Müller

Lothar Müller ©Regina Schmeken

Der Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste geht in diesem Jahr an den in Berlin lebenden Autor, Kritiker und Feuilletonredakteur Lothar Müller. Diese Wahl trafen die Juroren Ingo Schulze, Marie Schmidt und die letzte Preisträgerin Kathrin Passig. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis für Essayistik wird am 27. März, dem Geburtstag Heinrich Manns, in der Akademie der Künste verliehen.

Aus der Begründung der Jury: „Lothar Müller ist im literarisch-geistigen Leben der Bundesrepublik eine allseits anerkannte Bezugsgröße… Sein unbestechlicher Blick ist zuallererst auf das Verstehen aus, um daraus die angemessenen Kriterien zu entwickeln. Vielseitigkeit, Originalität der Themen, Eloquenz, Präzision und ein differenziertes historisches Bewusstsein dienen bei ihm der Erhellung relevanter Vorgänge, die das Hier und Jetzt betreffen und die sozialen und ökonomischen Verhältnisse selbstverständlich mit einbeziehen. Bei Lothar Müller geht es immer um etwas. Daraus entsteht der klare Stil und die Lesbarkeit und Differenziertheit seiner Essays, die aufklärerisch und zugleich selbstaufklärerisch wirken.“

Lothar Müller wurde 1954 in Dortmund geboren und lebt in Berlin. Er studierte Germanistik und Geschichte in Marburg und promovierte über Karl Philipp Moritz und den psychologischen Roman. Nach einer längeren Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin und der Mitarbeit in einem Forschungsprojekt der HU Berlin wechselte er als Redakteur ins Feuilleton, von 1997 bis 2001 im Literaturblatt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und von 2001 bis 2020 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung mit Sitz in Berlin. Seit 2010 hat er eine Honorarprofessur im Fachbereich Neue Deutsche Literatur an der Humboldt Universität zu Berlin inne. Neben zahlreichen Essays, Editionen, Neuausgaben und Rezensionen hat Lothar Müller folgende Bücher veröffentlicht: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser. Frankfurt am Main 1987; Casanovas Venedig. Ein Reiselesebuch. Berlin 1998; Das Karl Philipp Moritz-ABC. Anregung zur Sprach-, Denk- und Menschenkunde. Frankfurt am Main 2006; Die zweite Stimme. Vortragskunst von Goethe bis Kafka. Berlin 2007; Herman Bang. Leben in Bildern. Berlin 2011; Weiße Magie. Die Epoche des Papiers. München 2012 (Englisch: White Magic. The Paper Age. London 2015); Freuds Dinge. Der Diwan, die Apollokerzen und die Seele im technischen Zeitalter. Berlin 2019 (Extraausgabe 2021); Adrien Proust und sein Sohn Marcel. Beobachter der erkrankten Welt. Berlin 2021.

Die Preisträger der letzten Jahre waren Kathrin Passig (2021), Eva Horn (2020) und Danilo Scholz (2019).

Kommentare (1)
  1. Heinrich-Mann-Preis für Lothar Müller, FR vom 28. Jan. 2022, S. 27
    Zweifellos ist die Begründung der Akademie der Künste berechtigt, nach der Lothar Müller eine „allseits anerkannte Bezugsgröße im literarisch-geistigen Leben der Bundesrepublik“ darstellt. Nach der Lektüre seiner 2021 bei Wagenbach erschienenen Arbeit „Adrien Proust und sein Sohn Marcel“ drängt sich nur der Verdacht auf, dass ein solches Kompliment sehr relativ sein kann, da Müller auch mit entscheidenden Stellen aus Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ willkürlich und gegebenenfalls entgegen der Textlage umgeht, auf die er sich stützt.
    So unterschlägt Müller die intensivste Begegnung zwischen dem Protagonisten und seinem Freund Robert de Saint-Loup in der Kaserne von Doncière, wenn er behauptet, Marcel habe „statt in [Roberts] Zimmer“ im Hotel übernachten müssen. Tatsächlich verbringt er erst die nächste Nacht auswärts. Proust schreibt (Guermantes, 109) „Doch am zweiten Tag musste ich dann im Hotel schlafen.“ Müllers Weigerung, die Kohabitation zwischen Saint-Loup und Marcel (wie auch immer sie sich gestaltet haben mag) zur Kenntnis zu nehmen, verschiebt das Beziehungsgefüge zwischen den beteiligten Personen erheblich, weil sie die intensiven Bemühungen Saint-Loups um Marcel ignoriert und dem Umstand nicht gerecht wird, dass zwei schwule Männer eine gemeinsame Nacht verbracht haben, die sich zu unterschiedlichen Zeiten um die gleiche Frau, Gilberte, bemühen. Gegen Ende des Romans kommt Proust auf das problematische Beziehungsgeflecht zurück und kommentiert die sich dabei ausbreitende Verlegenheit ironisch: „Doch rückt man sich gern in dieser Weise Erzählungen aus einer Vergangenheit zurecht, die niemand mehr kennt, ebenso wie die von Reisen in Länder, die niemand aufgesucht hat.“ Das bleibt völlig unverständlich, wenn eine bedeutende, homoerotisch bestimmte Szene orthosexuell ausgeblendet wird.
    Im Zusammenhang mit dem Tod von Marcels Großmutters ergänzt Müller die Darstellung Prousts nicht nur eigenwillig, sondern erneut gegen die Textlage. Das von ihm (101) für die Ausbreitung eines Nasenleidens – tatsächlich stirbt die Großmutter aber an Nierenversagen – verantwortlich gemachte „nicht desinfizierte Besteck […] des (HNO-) Spezialisten X.“ ist in Guermantes (455ff.) nicht zu finden. Vielmehr hatte „dieser Spezialist uns untersucht, als wir schon krank waren.“ Damit erspart sich Müller die ihm vielleicht peinliche Erörterung, wie für Proust Nasen als Riech- und zugleich präludierende Sexualorgane zusammenhängen, was er so hinreichend im Umgang Charles Swann mit Odette abhandelt, dass es gar nicht überlesen werden kann. In Marcels Familie hat sich Impotenz ausgebreitet, die mit den Mitteln eines HNO-Arztes nicht therapiert werden kann, deren Opfer aber eine alte Frau – als Frau! – wird, weil sie das zuständige Organ nie besessen hat.
    Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Müller schließlich (84) feststellt: Der Erzähler Marcel „sondiere die schlafende Albertine als Landschaft der Sexualität.“ Auch wenn ähnlich abstoßende Vergewaltigungsphantasien seit Till Lindemann, Wenn du schläfst (in: 100 Gedichte, Kiepenheuer, 2020) schon vorliegen, übertrifft das nicht nur dessen „frauenfeindliches Geschmiere“ (C. Otte), sondern verletzt wegen der krampfhaft objektivierenden Wortwahl – nicht nur Frauen.
    Ob daraus ein „differenziertes historisches Bewusstsein“ geschlossen werden kann, wie die JurorInnen der Akademie meinen, ist tunlichst zu bezweifeln. Was Müller über Proust hinter einem deutlich retuschierten Buchdeckel schreibt, ist weder „aufklärerisch und zugleich selbstaufklärerisch“, sondern bestenfalls peinlich für das „literarisch-geistige Leben der Bundesrepublik“.
    Dr. Karl Reininghaus
    Richthofstraße 8
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    06625-1896

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