Independents Kurt Wolff Stiftung bezieht Position zu Türkei-Maßnahmen – mit „Willkürakten gegen Intellektuelle setzt sie unglückselige Traditionen fort“

Mit einer „Offenen Erklärung zu den Repressionsmaßnahmen gegen Verlage und Medien, Autoren und Autorinnen, Journalisten und Journalistinnen in der Türkei“ hat sich die Kurt Wolff Stiftung an die Öffentlichkeit gewandt. Hier der Text im Wortlaut:

Die heutige Türkei wird zu ihrem Schaden mehr und mehr mit Verfolgung und Repression Andersdenkender durch den eigenen Machtapparat – Regierung, Justiz, Exekutive – identifiziert. Mit den Willkürakten gegen Intellektuelle, gegen Autoren und Autorinnen, Journalisten und Journalistinnen, Verlage und Medien setzt sie unglückselige Traditionen fort.

Nach bekannten Mustern etablieren ihre Führung und Justiz seit langem systematisch und demagogisch Mechanismen der Bedrohung und Verfolgung, die sich gegen die eigene Bevölkerung und ihre herausragenden künstlerischen und geistigen Vertreterinnen und Vertreter richten:

  • Der Versuch, die Autorin Elif Şafak wegen angeblicher »Herabsetzung des Türkentums« in ihrem Roman ›The Bastard of Istanbul‹ zu verurteilen, scheiterte 2006.
  • In einem von Teilen der Justiz, der Medien und der Politik entfachten Klima des Hasses wurde 2007 der armenische Publizist Hrant Dink ermordet, der als türkischer Staatsbürger für den Dialog und die Versöhnung zwischen Türken und Armeniern eintrat. Sein Tod wurde zum Stein des Anstoßes für eine breite Protestbewegung in der Türkei.
  • Die Gefängnishaft des Kölner türkischstämmigen Autors Doğan Akhanlı hatte weltweit für Empörung gesorgt und eine Welle der Solidarität ausgelöst. Sein Freispruch in Istanbul 2011 war ein Fiasko für seine Verleumder. Der eigentliche Hintergrund für die konstruierte Anklage war sein Roman Kıyamet Günü Yargıçları (Die Richter des Jüngsten Gerichts), in dem der Völkermord an den Armeniern thematisiert wird. • Die Repressionsmaßnahmen gegen die kritischen Journalisten Can Dündar, der am 6. Mai 2016 mit einem Attentat eingeschüchtert werden sollte, und Erdem Gül sowie die Inhaftierung von Aslı Erdoğan (16. August) machen ihre mutigen Stimmen weltweit nur noch vernehmbarer.

Dabei sind es ausgerechnet diejenigen türkischen Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die zum Ziel von gezielter Anfeindung und Repressionen gemacht wurden, die zum positiven Bild der modernen Türkei international einen unvergleichlichen Beitrag geleistet haben. Autoren wie Nâzım Hikmet, Yaşar Kemal und Orhan Pamuk haben angesichts solcher Bedrohungen Courage bewiesen. Sie – und nicht die Regierung und ihre Handlanger – sind wahre Botschafter ihres Landes.

Die Kurt Wolff Stiftung als Zusammenschluss von über hundert unabhängigen Verlagen repräsentiert einen wichtigen Teil des deutschen Kulturbetriebs und trägt zur Meinungsbildung und Information bei. Sie beruft sich auf das Vorbild des legendären deutschen Verlegers Kurt Wolff. Dieser sah sich gezwungen, angesichts der faschistischen Regime ins Exil zu flüchten, wo er dazu beitrug, dass die Bücher von verfolgten Autoren und Autorinnen weiterhin erscheinen konnten.

Jede Verfolgung von Andersdenkenden in der Türkei ist auch in dieser Tradition für uns Anstoß, erst recht genau hinzuschauen, wie dort Grundrechte verletzt werden. »Säuberungen« und »Gleichschaltung« sind jetzt an der Tagesordnung. Es ist durchsichtig, wie die Vorfälle des 15./16. Juli 2016 bis heute zum willkommenen Vorwand für abstruse Anklagen und Verfolgungen herhalten, von denen nicht nur Journalisten und Journalistinnen betroffen sind. Es ist unvereinbar auch mit den Werten der Türkei, wie eine Minderheit ihr zunehmendes Machtmonopol missbraucht und das Ansehen der Türkei aus Gründen des reinen Machterhalts beschädigt und herabsetzt.

Darum gelten unser Respekt und unsere Solidarität den prominenten Verteidigern und Verteidigerinnen der Meinungs- und Gedankenfreiheit sowie all den »Namenlosen«, die sich nicht den Einschüchterungsversuchen und Repressionen beugen.

  • Wir protestieren gegen die Inhaftierung von Aslı Erdoğan, Ahmet und Mehmet Altan, von Cumhuriyet-Chefredakteur Murat Sabuncu sowie allen Opfern politischer und juristischer Willkür und fordern ihre Freilassung.
  • Wir protestieren gegen die Enteignungs- und Zensurmaßnahmen gegen türkische Verlage und Medien und erklären unsere Solidarität mit ihnen.
  • Wir protestieren gegen alle Maßnahmen, die auf die Zerschlagung der Presse- und Meinungsfreiheit abzielen.
  • Wir fordern von der deutschen Politik und der Bundesregierung, der EU-Kommission sowie führenden Repräsentant/innen der Wirtschaft, in aller Entschiedenheit auf das Ende der Repressionen hinzuwirken.
  • Wir schließen uns der Petition zur Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit in der Türkei des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, des PEN-Zentrums Deutschland und der Reporter ohne Grenzen, der PEN Publishers Circle Petition in Support of Turkish Colleagues und dem Protest von Nobelpreis- und Friedenspreisträgern und -trägerinnen an.
  • Wir stehen solidarisch an der Seite unserer Kollegen und Kolleginnen im In- und Ausland, die sich nicht vorschreiben lassen, welche Literatur aus der Türkei sie verlegen. Diese leisten einen großartigen Beitrag dazu, dass das Bild dieses beeindruckenden Landes, seiner Menschen und seiner Kultur nicht einseitig und weniger negativ ist.
  • Wir unterstützen alle Kräfte, die – wie einst Hrant Dink – in der Türkei mit einer offenen Aufarbeitung der türkischen Vergangenheit einen Beitrag dazu leisten, in der Gegenwart Hass zu überwinden und das Verhältnis zwischen der Türkei und der Welt zu verbessern.
  • Wir rufen dazu auf, gezielt die zahlreichen übersetzten Bücher derjenigen türkischen Autoren und Autorinnen, Publizisten und Publizistinnen, die im Visier des Machtapparats sind, zu kaufen und zu lesen.
  • Wir begrüßen die Vergabe des Alternativen Nobelpreises 2016 an die türkische Zeitung Cumhuriyet, die Verleihung des Tucholsky-Preises des schwedischen PEN-Zentrums an Aslı Erdoğan sowie des Hermann-Kesten-Preises 2016 des PEN-Zentrums Deutschland an Can Dündar und Erdem Gül.
  • Wir wünschen uns, dass die Türkei wieder einen selbstbewussten Weg der kulturellen Öffnung beschreitet, zu dessen Höhepunkten die Rolle als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2008 sowie die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2005 und des Nobelpreises für Literatur 2006 an Orhan Pamuk gehörten.
  • Wir lassen uns von niemandem vereinnahmen, der auf türkenfeindliche Stimmungsmache aus ist; einer Türkenfeindschaft erteilen wir ebenso eine klare Absage wie jeglicher Form von Gewalt und Intoleranz. Beides ist unvereinbar mit Werten, für die wir sowie unsere Autorinnen und Autoren stehen. Unser Protest geschieht im Bewusstsein um die besten Seiten der Türkei und der Völker auf ihrem Gebiet, im Geiste eines freundschaftlichen, friedlichen und respektvollen Begegnens.

Christoph Haacker und der Vorstand der Kurt Wolff Stiftung

Leipzig, 07.11.2016

Kommentare (1)
  1. Wer von den Kollegen, die diesen Brief verfasst haben, hat, bevor dieser Brief geschrieben wurde mit türkischstämmigen Mitmenschen gesprochen. Und wer von den Kollegen hat Ahnung, was gerade in der Türkei passiert? Dieser Offene Brief entspricht einem Bild der Türkei, was nur Menschen haben, die sich nie damit wirklich befasst haben. Schade, aber allen, die ebenfalls kaum etwas über die Türkei wissen wird er gefallen, aber er ist halt am Thema vorbei.
    mfg, Anna Mandalka, Orlanda Verlag

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