Veranstaltungen Thomas Melle übergibt Schlüssel an Clemens Meyer

Am Freitag fand im Frankfurter Stadtteil Bergen-Enkheim zum 45. Mal das große literarische Volksfest zur Übergabe des Schlüssels zum Stadtschreiberhaus An der Oberpforte statt. Dabei verabschiedete sich Thomas Melle, Clemens Meyer übernahm Schlüssel und Amt.

Ortsvorsteherin Renate Müller-Friese begrüßte die Gäste im neuen Zelt, darunter viel Politprominenz aus Bund, Land und Stadt  – in Hessen wird am 28. Oktober gewählt.

Außerdem hieß Müller-Friese, die als Ortsvorsteherin der Stadtschreiberjury vorsitzt, weitere Juroren willkommen.

Die Rednerin ging auf eine Studie zum Leserverhalten von Kindern ein und schlussfolgerte, dass Kinder nach wie vor gerne schmökerten. Auch Jugendliche würden lesen, „vielleicht heute weniger als vor 20 Jahren, auf alle Fälle anders“, bemerkte Müller-Friese. Sie schätze die Kreativität der jungen Leute, nicht zuletzt hätten Veranstaltungen wie Poetry Slams, die es in über 90 deutschen Städten gibt, viele Akteure und Besucher. Abschließend zitierte sie Die Macht der Sprache von Slammer Bas Böttcher.

Dann trat Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann ans Mikrofon. „Hier in diesem Zelt passiert etwas sehr Spezielles: Heute wird der alte Stadtschreiber verabschiedet und der neue willkommen geheißen. Morgen wird die neue Apfelweinkönigin gekrönt und ihre Vorgängerin verabschiedet.“ Der traditionelle Berger Markt vereine die Menschen des Stadtteils und darüber hinaus. Literatur wird zum Volksfest.

In Frankfurt, so unterstrich Feldmann, lebten 170 unterschiedliche Nationen friedlich neben- und miteinander. „Folklore ist nur auf etwa 300 Metern in der Münchner Straße zu sehen, längst haben sich die Nationalitäten vermischt, es gibt bei uns keine chinesischen, türkischen oder italienischen Viertel“, sagte der Oberbürgermeister.

Die Festrede hielt der Kulturwissenschaftler, Germanist und Redakteur der Süddeutschen Zeitung Jens Bisky. Er sieht sich als „Vermittler zwischen Berlin und Bayern“ und sprach über Großstädte, ein Konglomerat, das es seit etwa 150 Jahren gibt. Deren Bewohner erschienen cool, rastlos, robust und gleichgültig. Der urbane Lebensstil kenne keine Herausforderungen. Aber: Stadtluft mache krank. Die Großstadt gehe mit Staus, Rollkoffern, Teuerungen, Wohnungsnot und der Furcht, verdrängt zu werden, auf die Nerven. „Gentrifizierung ist eine Form des Krieges“, bemerkte Bisky. Andererseits schüfen sich die Menschen Fluchten, gestalteten ihren eigenen Kietz, ihr eigenes Quartier. Man treffe sich am Kiosk, Wasserhäuschen oder beim Späti. Täglich verändere sich die Stadt – entgegen dem Bestreben, zu bewahren. „Fabrikmäßig geplante Städte sind scheußlich“, stellte der Redner fest. Bereits 1925 hatte Berlin über vier Millionen Einwohner, diese Zahl werde wohl bald wieder erreicht.

„Man sollte den Städten falsche Versprechen ersparen. Es gibt keine kurzen Prozesse, grundlegende Veränderungen dauern lange.“ Auch schnelle Lösungen im Dauerkrieg zwischen Auto-, Radfahrern und Fußgängern seien nicht zu erwarten. Ebenso wenig eine rasche Veränderung des Missverhältnisses zwischen Wohnraum und Zuzug. „Ohne verstärkten kommunalen Wohnungsbau wird es in Zukunft nicht gehen“, betonte Bisky. Die Leute bereiteten sich jetzt schon auf eine Wohnungsbesichtigung wie auf eine Castingshow vor. „Die kommunalen Betriebe müssen reorganisiert werden“, forderte der Redner. Man müsse darüber diskutieren, was unter Gemeinwohl zu verstehen ist. „Soll Zusammenleben glücken, bedarf es engagierter Menschen“, stellte Bisky fest.

Thomas Melle, der „ein gerne und oft gesehener Gast“ in Bergen war, wie Müller-Friese anmerkte, hielt seine Abschiedsrede. Er ließ den Zeitraum August bis August Revue passieren. Zwölf Monate, ein abgezirkeltes, räumlich strukturiertes Jahr, eine relativ kurze Zeit. „Ich verbrachte sie als Raucher schmachtend in der Nichtraucherbahn, tief durchatmend in den Streuobstwiesen. Zeit verändert sich und wird berührbar“, sagte Melle. Vielleicht gäbe auch das Haus aufgenommene Eigenheiten seiner über 40 Bewohner an die Nachfolgenden weiter. „Vergangenheit und Zukunft liegen nah an der Gegenwart. Das wurde mir im Stadtschreiberhaus bewusst“, bemerkte der 44. Amtsinhaber. Man müsse die Zeit annehmen und gestalten. „Danke, dass ich Zeit in ihrer Stadt verbringen durfte“, wandte er sich abschließend ans Publikum und wurde mit viel Beifall verabschiedet.

Clemens Meyer, Thomas Melle, Renate Müller-Friese

„Vorhin war ich im Markt 34, da hat der von mir verehrte Wolfgang Hilbig gesessen. Das hat mich geerdet“, begann Clemens Meyer nach der Übergabe des symbolischen Schlüssels und der Urkunde seine Antrittsrede. „Ich werde hier einen Roman schreiben, im Utopia Bergen-Enkheim, einem Ort, wo Literatur etwas gilt“, nahm er sich vor. Er wolle mit Verortung angehen gegen Verrohung. Aber „Dichten ist ein langsamer Prozess“. Meyer mäanderte durch Vergangenheit und Gegenwart und Sprache. Da könne manches schiefgehen, beispielsweise wenn ein unwissender Tätowierer nicht wie gewünscht Aryan sondern Ayran auf den Hals sticht.

Meyer zitierte, von vielen Gesten unterstrichen, Bemerkungen von Gaddafi und Karl May – erst im Nachhinein erfuhren die Zuhörer, von wem die Aussprüche stammten. Und wunderten sich. Auch der 45. Amtsinhaber wurde mit viel Applaus willkommen geheißen.

Am anderen Ende des Zeltes hatte die Buchhandlung Bergen erlesen von Anna Doepfner ihre Tische aufgebaut. Die Inhaberin hatte sich noch einige Helferinnen an ihre Seite geholt. Viele Interessierte drängten sich um die Bücherstapel. Traditionell signierten die Stadtschreiber – eine Gelegenheit, die zahlreiche Zeltgäste wahrnahmen.

JF

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