Das Sonntagsgespräch Jörg Sundermeier: „Die Literaturkritik droht uns allein zurück zu lassen“

Literaturkritik ist eine der „heiligsten Kühe“ des Feuilletons, sogar das buchwissenschaftliche Mainzer Kolloquium widmet sich am 30. Januar diesem Thema und lässt dabei KritikerInnen unterschiedlicher Medien zu Wort kommen.

Der Verleger des Berliner Verbrecher Verlags, Jörg Sundermeier, aber ist außerordentlich unzufrieden mit dem derzeitigen Zustand – buchmarkt.de hat ihn gefragt, was genau seinen Unmut erregt.

Die Stimmung in der Buchbranche ist in diesem Januar besser als in den letzten Jahren, der Streit um den Suhrkamp Verlag ist entschieden, alle Welt diskutiert den neuen Roman von Houellebecq, der zu einem Bestseller avanciert. Nun kommen Sie und sagen uns, dass die Literaturkritik die Verlage im Stich lässt. Wollen Sie schlechte Laune verbreiten?

Jörg Sundermeier

Jörg Sundermeier: Nein, auch meine Stimmung ist gut. Dennoch es ist schrecklich mit anzusehen, dass die Zahl der klassischen Literaturrezensionen in der Presse immer weiter zurückgeht, was ja auch Thierry Chervel vom Perlentaucher kürzlich nachgewiesen hat. Die Feuilletons schielen immer mehr auf Ereignisse und reden vor allem über den Literaturbetrieb und gehen immer weniger ihrer eigentlichen Aufgabe, also der Kritik der Literatur, der Kunst, des Theaters und so weiter, nach. Jörg Drews hat an der Universität schon vor über 20 Jahren darüber gesprochen, dass die Literaturkritik nicht mehr in der Lage sei, komplexe und umfangreiche Bücher angemessen zu würdigen, seine Beispiele damals waren Romane von Peter Weiss und Paul Wühr. Heute aber scheint, um mal polemisch zu werden, schon ein Roman von Murakami manch einen hochbezahlten und im Betrieb sehr geschätzten Kritiker an die Grenze seines intellektuellen Vermögens zu bringen.

Woran, glauben Sie, liegt das?

Viele behaupten ja, das läge am Zeitungssterben, doch davon konnte zu der Zeit, in der Drews seine Kritik äußerte, ja noch überhaupt keine Rede sein, damals ging es den Zeitungen blendend. Drews verwies immer wieder auf einen anderen ökonomischen Zusammenhang – ein Rezensent, der ein Buch von – sagen wir – 600 Seiten besprechen soll, das ihm auch intellektuell einiges abverlangt, braucht für das Lesen und seinen Text, selbst dann, wenn er schnell ist, weitaus mehr als eine Woche. In dieser Zeit kann er aber zwei eher triviale Bücher lesen und besprechen oder sogar noch eine Homestory über einen Autor schreiben, inklusive Recherche, er kann also im selben Zeitraum dreimal mehr verdienen als er verdienen würde, bespräche er nur das eine dicke Buch. Das ist das eine.

Und das andere?

Ich glaube, dass es nicht mehr besonders en vogue ist, intellektuell zu sein, nicht nur die Hooligans von der Pegida halten das Wort Intellektueller für ein Schimpfwort. Für viele mit guter Schulausbildung hat Intellektualität den Beiklang von Engagement, oder sagen wir einfacher: Haltung. Und Haltung ist kaum noch gefragt heute, auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht, der ja nun wahrlich nicht vom Zeitungssterben bedroht ist.

Alle meinen den ganzen Tag irgendwas, Meinungen sind ja gerade hoch im Kurs, in den Redaktionen ist immer wieder von der Meinungsstärke von Texten die Rede. Aber Haltung zeigen wenige, denn das hieße ja die Ansichten von gestern auch jetzt noch zu vertreten. Oder aber sich selbst zu kritisieren, also sich infrage zu stellen, sich angreifbar zu machen. Und, ehrlich gesagt, manche festangestellten Literaturkritiker können viel viel mehr über edle Schuhe oder gutes Essen sagen als über die Qualität literarischer Texte.

Vielen so genannten Rezensionen merkt man an, dass ihr Verfasser das zu besprechende Buch nur oberflächlich oder nur zum Teil gelesen hat. Früher wurde man für eine solche Schlamperei in der literarischen Gemeinde geächtet, heute ist das ein Kavaliersdelikt. Und Leserbriefe, in denen sich darüber beschwert wird, gibt es auch nicht mehr. Fritz J. Raddatz könnte heute in einem Leitkommentar darüber schreiben, wie Goethe im Jahr 1830 den Frankfurter Flughafen sah, keiner würd’s merken. Und wenn, würde sich niemand trauen, was zu sagen.

Warum sollte sich kaum einer trauen?

Weil es ein elendes Kumpelsystem gibt mit Abhängigkeiten. Die Herren und die viel zu wenigen Damen kennen sich zumeist gut, sie schreiben zudem Nach- oder Vorworte für die Bücher der Kolleginnen und Kollegen oder schenken sich sogenannte Blurbs. Und sie glauben nun, diese Bücher und diese Kollegen nicht mehr kritisieren zu können. Da geht es um Macht und um Angst. Hinter vorgehaltener Hand lästern viele, aber in der Öffentlichkeit liegen sich alle in den Armen. Und auch die feine Art, dass man die Bücher des Verlages, in dem man selbst publiziert, lieber nicht rezensiert, weil man sich für befangen hält.

So was, das ist ja eine Stilfrage, das gibt es kaum noch. Manche flüchten sich immerhin noch in solchen Fällen in Homestorys oder Interviews, um ihr Gewissen nicht zu sehr zu belasten. Das Problem der Literaturkritik ist, dass es fast keine Kritik der Literaturkritik mehr gibt, nicht mehr in den Redaktionen, nicht mehr in den Universitäten. So eine Situation hat sich jemand wie Jörg Drews – oder nehmen wir den legendären Helmut Heißenbüttel – wahrscheinlich gar nicht vorstellen können. Und dann gehen natürlich die Kritierien für die Bewertung eines Buches flöten. Schauen Sie sich mal mehrere Rezensionen einiger Rezensenten an – da wird ein Buch in einer Rezension genau für das gelobt, was einem anderen Buch in einer anderen Rezension vorgeworfen wird. Das ist doch absurd!

Und inwiefern ist diese Krise der Litreraturkritik nun belastend für die Literaturbranche?

Die kleineren Verlage, die sich ja oft an die komplizierteren Texte oder Editionen herantrauen, werden tatsächlich weniger besprochen, oder aber sie werden für ihr Kleinsein gelobt und für die Ausstattung der Bücher, ganz so, wie Oma ein Kind tätschelt, wenn es ein Gedicht gut aufgesagt hat, aber mit Kritik hat das nichts zu tun. Und die größeren Verlage haben auch das Problem, dass ihre blutrünstigsten Thriller und ihre nacktesten Autorinnen inzwischen mehr Aufmerksamkeit bekommen als die Bücher, die auch im Lektorat Freude machen.

Das ist auf Dauer demotivierend. Wir arbeiten ja alle nicht nur für die Umsatzstatistik. Und die Leserinnen und Leser wenden sich ab, wenn alles nur noch „brillant“ oder ein „Meisterwerk“ oder gar ein „Buch des Jahres“ ist, aber schon am Ende desselben Jahres, in den Produktempfehlungen der Redakteure, überhaupt nicht mehr vorkommt. Und dann zweifeln die Leserinnen und Leser an der Bedeutung der Literatur insgesamt. Das ist dann der Rückzug in den Privatbunker, das Lesen für sich, auch das dann letztendlich kriterienlos. Da züchtet man eine Menge Nerds, Spinner und Dummköpfe.

Das klingt jetzt aber sehr pessimistisch…

Nein, ich will nur aufrütteln. Ich glaube schon, dass die Leserinnen und Leser sich nicht nur mit Quark abspeisen lassen wollen. Sie werden andere Wege finden. Und auch wenn sich die aliteraten Kritikstars gegenseitig mit Lob überschütten – die Leserinnen und Leser wissen schon, was sie an einer Ina Hartwig, einem Lothar Müller, einem Alf Mentzer und einigen andern haben. Und an jenen guten Leuten, mit denen ich mich duze; ich bin ja auch befangen, ich bin ja auch Teil des Betriebs, natürlich auch. Aber wenn die Literaturkritik jetzt nicht bald mit sich selbst ins Gericht geht, und nicht etwa, wie bei der Florian-Kessler-Debatte im letzten Jahr, seitenlang darüber schreibt, dass hier überhaupt nichts zu sagen wäre, also vermeintliche heiße Luft mit noch mehr heißer Luft beantwortet, oder wenn sie jedes Frühjahr und jeden Herbst den eh schon knappen Platz in den Blättern für große Besprechungen der Vorschauen verschwenden, dann wollen die Leser irgendwann nicht mehr. Und das wird dann auch der Buchhandel merken.

Was wünschen Sie sich also von der Literaturkritik?

Jan Drees äußerte im vergangene Jahr im Freitag den „frommen Wunsch“ für 2015: „Mehr Literaturkritik wagen“. Dem schließe ich mich an.

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