Das Autorengespräch Michael Köhlmeier über seinen Roman „Das Mädchen mit dem Fingerhut“

Michael Köhlmeier

Immer freitags hier ein Autoren-Gespräch – heute mit Michael Köhlmeier, der derzet mit seinem mit seinem Roman Das Mädchen mit dem Fingerhut (Hanser) auf Lesereise ist, der mit diesem Buch aber nicht auf ein aktuelles Thema aufgesprungen ist: Das Manuskript war bereits 2014 abgeschlossen.

Angeregt haben den Autor sein Studien zu den „Wolfskindern“ nach dem Ende des 2. Weltkriegs im Baltikum, also elternlose Kinder, die sich durchschlagen mussten. Ulrich Störiko-Blume hat sich mit Köhlmeier zum Interview getroffen:

Ihr Roman spielt im Winter, beim Lesen friert man mit. Ist dieses Szenario ein Symbol für die Kälte unserer Gesellschaft und die schiere Unmöglichkeit, in ihr zu überleben, wenn man kein Zuhause hat?

Ich habe das nicht symbolisch gedacht. Winter ist für Menschen, die obdachlos sind, die schwerste Jahreszeit; und ich wollte dieses Mädchen über den Winter bis in den März begleiten. Ich mag Bücher nicht, bei denen ich merke, dass der Autor mir eine gewisse Lesart empfiehlt. Es gibt das schöne Goethe-Wort („Man merkt die Absicht, und man ist verstimmt“). Ich möchte die Absicht des Autors beim Lesen nicht spüren.

Sie laufen gewissermaßen mit den heimatlosen Kindern mit, die ihre erste Nacht ja tatsächlich im Wald unter Tannengeäst verbringen.

Ich bin den Kindern gefolgt – bis zur letzten Seite. Genauso wenig, wie der Leser weiß, was auf ihn zukommt, habe ich das beim Schreiben gewusst. Wahrscheinlich dachten die Kinder – und ich auch – es ist besser, eng beieinander in einem Tannengehölz zu übernachten als irgendwo unter freiem Himmel.

Einer der ersten Sätze in Ihrem Roman lautet: „Wieder hatte sie Mühe, ihn zu verstehen. Aber sie verstand ihn.“ Geht es nicht vielen von uns so, wenn wir darüber nachdenken, was die gegenwärtige Flüchtlingswelle für uns eigentlich bedeutet? Wir wissen schon, was los ist, aber wir verhalten uns so, als könnten wir die Dinge ausblenden?

Das Wort „Flüchtling“ kommt in dem Buch kein einziges Mal vor. Ich habe den Text geschrieben, bevor das ein ganz großes Problem wurde. Wir definieren unser Europa nach humanistischen und aufgeklärten Idealen – und wenn diese dann wirklich heftig eingefordert werden, springen wir ab. Der Strom der Flüchtenden verändert die Menschen hier, teilweise zum Guten, teilweise zum Gegenteil. Laut Umfragen in Österreich unterstützt ein Drittel der Befragten eine Partei, die extrem hetzt. Unsere Ideale und unsere Moral sehen so lange schön aus, wie sie nicht gefordert werden. Wenn wir das Versprechen einlösen, das wir unserer Kultur gegeben haben, nämlich dass wir humanistisch sein wollen, dann wecken wir Ressentiments und extreme Hassgefühle, und das stellt uns vor einen Konflikt: Einerseits wollen wir unsere Moral und unseren aufgeklärten Geist nicht aufgeben, auf der anderen Seite können wir nicht um jeden Preis etwas durchsetzen, was die Leute nicht wollen und wo dann am Ende Flüchtlingsheime brennen. Mit anderen Worten: Wir müssen den Teufel im Zaum halten.

Sie sind zu diesem Buch durch die „Wolfskinder“ nach dem 2. Weltkrieg im Baltikum inspiriert worden – ist der thematische Bezug zur gegenwärtigen Lage von Ihnen gar nicht bezweckt?

Sogar wenn er nicht bezweckt wäre, ist er da. Während wir hier reden, sind unzählige Kinder in genau der gleichen Situation wie Yiza und ihre Freunde. Es ist kein Märchen, es ist Realität.

In der Kritik wurde das Buch bereits als Märchen, als Parabel, als märchenhafte Novelle beschrieben – warum haben Sie es einfach Roman genannt?

Weil wir beim Begriff Roman eher etwas Realistisches als etwas Fantastisches erwarten. Genau das gibt uns doch zu denken. Ich habe das Buch in einer nüchternen, trockenen und emotionslosen Sprache geschrieben, wie wir es nur aus journalistischen Berichten kennen. Und dennoch kommt die Assoziation des Märchens, weil wir solche Situationen von verlorenen Kindern bisher nur aus Märchen kannten: Hänsel und Gretel. Und plötzlich merken wir, es gibt das wirklich, und das ist nicht märchenhaft, sondern real. Oder Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von Hans Christian Andersen – mit dem Titel spiele ich ja darauf an – man kann dieses Märchen ganz leicht als Sozialreportage lesen.

Der Titelwortlaut und das Bild des Mädchens, das einen anschaut, haben mich zunächst an den Roman Das Mädchen mit dem Perlenohrring von Tracy Chevalier erinnert (der dann mit Scarlett Johansson erfolgreich verfilmt wurde). Ihr Buch kommt ja nicht so daher, wie man üblicherweise einen in der Gegenwart angesiedelten realistischen Roman ausstattet.

Für mich ist es das erste Mal in meinem Leben, dass ich mit einer Realität konfrontiert werde, die ich bisher nur aus Berichten oder aus Märchen kannte. Was umgekehrt einen Rückschluss auf das Märchen zulässt. Märchen sind eben nicht von der Realität am Weitesten entfernt, sondern umgekehrt: Märchen haben eine Realität beschrieben, und nur für unsere Ohren klingt diese Realität wie ein Märchen.

Als grotesk empfand ich bei der SWR2-Bestenliste die Kategorie „Leichtere Lektüre“ – denn tatsächlich handelt es sich doch um eine bittere Tragödie, oder?

Gemeint ist wohl: Das Buch ist leicht zu lesen, und das ist es nun wirklich. Ein aufgeweckter Zehnjähriger kann dieses Buch lesen und auch verstehen.

Sie erzählen aus der Perspektive des sechsjährigen Mädchens …

Ich habe die Sprache so einfach wie möglich gewählt; keine sprachlichen Kunstkniffe, keine Rückblicke, keine Reflexionen; ich wollte nicht klüger sein als dieses Kind. Das Mädchen weiß weder, wo es ist, noch welche Sprache gesprochen wird; sie weiß vielleicht noch nicht einmal, dass sie auf der Flucht ist; sie weiß fast nichts. Ich bin gefragt worden: Warum ist sie denn aus dem Heim abgehauen? Da hatte sie es warm, bekam zu essen, hatte ein Dach über dem Kopf. Die Antwort ist ganz einfach: Der einzige Mensch, der ihre Sprache versteht, ist der „Große“, der 14-jährige Junge mit dem Namen Schamhan. Die intensivste Identifikation, die man haben kann, ist über die Sprache. Er sagt zu ihr: Komm mit, ich weiß ein Haus, wo wir den Winter bleiben können, wie im Schlaraffenland – natürlich geht sie mit ihm mit, weil sie mit ihm reden kann.

Beeindruckend ist die ungeheure Solidarität, der seelische und – in der Eiseskälte – auch körperliche Zusammenhalt der Kinder untereinander, die durch nichts erschütterbar ist …

… außer dann, als sie auf der Polizeiwache sitzen. Aber auch dann ist es kein Verrat, wenn die beiden Jungen miteinander in einer Sprache reden, die Yiza nicht versteht: Los, wir hauen ab. Das schaffen wir nicht, wenn Yiza mitkommt, sie ist zu langsam. Aber das macht nichts, denn alle finden das Mädchen ja lieb, sie wird es gut haben. Die Kinder sind solidarisch und liebevoll, dabei pragmatisch und nicht illusorisch.

… auch wenn der große Junge auf der Strecke bleibt …

… und der „Kleine“, ein unglaublich liebenswerter Kerl, wird dann zum „Großen“, der sich als Beschützer des Mädchens sieht.

Hinter der „guten Frau“, die dem kranken Mädchen das Leben rettet, könnte man eine Variante der Hexe bei Hänsel und Gretel verborgen sehen. Man muss befürchten, dass sie umgebracht wird, um das Mädchen zu befreien. Ist das nicht ein völlig demotivierendes Bild für alle, die sich mit dem Gedanken tragen zu helfen?

Nun ja, sie sperrt das Mädchen ein. Wenn ich mich in die Situation dieser Frau versetze (sie findet das kranke Mädchen in ihrem Gewächshaus, trägt sie ins Haus, pflegt sie und päppelt sie auf) – rein rechtlich gesehen wäre es das Gescheiteste, sie würde die Polizei anrufen. Aber die Frau weiß, was dann geschähe: Das Mädchen würde in ein Heim gesteckt. So gut wie bei ihr, der hilfsbereiten Frau, wird sie es dort niemals haben. Sie pflegt das Mädchen also gesund, bringt ihr ihre Sprache bei und will aus diesem Leben etwas machen. Doch sie weiß auch: Wenn sie das Mädchen unbeaufsichtigt lässt, wird sie fliehen. Sie macht also aus ihrer Sicht nichts Falsches, aber aus der Sicht des Mädchens sperrt sie sie ein wie die Hexe.

Deshalb ist es ja eine Tragödie – die Menschen wollen etwas Gutes tun.

Niemand tut ihr etwas Schlechtes, alle sind freundlich.

Wir würden das Böse gern nur bei denjenigen sehen, die in den Heimatländern der Flüchtenden Krieg gegen die Zivilbevölkerung führen.

Es ist ja noch tragischer. Wenn man in die Situation dieser Leute hineinkriechen würde, würde man sie auch nicht unbedingt alle als böse bezeichnen. Lessing hat einmal sinngemäß über das Drama gesagt: Wann immer eine Figur redet, muss sie – für sich gesehen – recht haben. Die Tragödie entsteht, wenn man nicht ohne Weiteres sagen kann, wer schuld ist.

Zugleich macht dieser Kampf ums nackte Überleben egoistisch, undankbar, sogar aggressiv.

Nicht nur. Schauen Sie, wie sich der „Kleine“ um Yiza kümmert, er macht ihr nachts heißen Tee, er wärmt sie, er ist unglaublich liebevoll zu ihr.

Ist der Fingerhut ein Symbol für den Wunsch nach Schutz vor weiterer Verletzung? Oder auch – wie ein Ring – ein Stück, das nur mir gehört?

Natürlich ist er ein Symbol, von dem Bedeutung ausgeht. Aber man kann ihn auch ganz pragmatisch sehen. Der „Kleine“ hat so ein paar Schätze in der Hosentasche, einen Fünfeuroschein, Streichhölzer, Teebeutel und diesen Fingerhut. Gleichzeitig ist es auch eine Geste, wie wenn er ihr einen Ehering geben würde. Symbolisch beschützt er sie, und es ist der einzige Gegenstand, den dieses Kind besitzt. Deshalb hält sie ihn so fest. Der Junge hat darin auch einen praktischen Wert gesehen, zum Schutz des verwundeten Fingers.

In welcher Stimmung haben Sie das Buch geschrieben: Verzweiflung oder Hoffnung?

Hoffnung; dabei habe ich versucht, meine Gefühle so gering wie möglich zu halten. Ich habe mir gedacht: Versetz dich in die Situation eines Reporters alter Schule, der nichts anderes berichtet als die Fakten und jede Deutung dem Leser überlässt, auch was den Fingerhut betrifft. Nur im letzten Satz gehe ich aus dieser Rolle heraus. Ein großes Vorbild ist für mich immer Mark Twain. Huckleberry Finn ist für mich ein Leben lang eine ganz wichtige Figur gewesen; er ist auch so ein verlorenes Kind. Ein solches Buch zu schreiben, wäre doch das Edelste, was es gäbe. Ein Buch, an dem sich ein Zehnjähriger ergötzen kann. Ich habe das damals gelesen – mit einer Freude und einer Gier, als Zwanzigjähriger wieder, dann mit fünfzig und mit sechzig. Ein Buch für alle, das ganz einfach ist und das trotzdem tiefe Einblicke in die menschliche Seele freigibt.

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