Immer viel Mut und Neugier - der Chancengeber: Zum Tod von Vito von Eichborn „Ohne Geschichte keine Zukunft“

­Im März ist Vito von Eichborn im Alter von 79 Jahren gestorben. Bodo Horn-Rumold erinnert sich in einem bewegenden Nachruf an seinen guten Freund:

Vito von Eichborn

Jetzt ist er nicht mehr bei uns, der Vito. Aber er hat, wie die jüngeren und sog. digitalen Generationen sagen würden, einen großen „Fußabdruck“, wenn nicht sogar viele hinterlassen.

Vito – Du wirst uns sehr fehlen, fehlst schon jetzt, mit Deiner unglaublichen Kraft, Deinem Mut für die Umsetzung von ungewöhnlichen Themen und Dingen, Deiner immer hellwachen Neugier, Deinen zum Teil sehr frechen Kommentaren und gezielten Provokationen zu jeder Tages- und Nacht- Zeit. Du hast Dich eingemischt, zu allen erdenklichen Themen des privaten oder Welt-Geschehens, mit Deiner besonderen Gabe, Menschen Chancen zu geben, sich weiter zu entwickeln, Dein großes Herz spendete oft Hilfe, wenn jemand wirklich Hilfe und Unterstützung benötigte, und Deine immer „offene Tür“ wenn jemand das Gespräch mit Dir gesucht hat, bleibt Legende. Viele, wirklich viele, auch ich danken Dir!

Über Vito‘s Lebenslauf wurde in den Medien bereits viel berichtet, so sei er hier etwas zusammengefasst und um ein paar Details und Anekdoten ergänzt. Geboren wurde Vito Eckart Eduard Moriz von Eichborn (welch Name! Den muss man lange üben, deswegen war er für uns alle einfach immer „Der Vito“) am 7. Dezember 1943 in Magdeburg. Nach verschiedenen Stationen, auch in verschiedenen Internaten, Abitur in Celle, Studium (Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaften) in Hamburg und Köln. Die Studien wurden abgebrochen, Vito hielt es eher und mehr mit den praktischen Dingen (learning by doing) startete er ein Volontariat beim Göttinger Tageblatt von 1968-1970 und war danach von 1970-1971 Redakteur beim Kölner Express. 1971-1972 Ausstieg, zusammen mit seiner damaligen Ehefrau Irma und seinem 1967 geborenen Sohn Thimon, für etwas mehr als 1 ½ Jahre ging er nach Spanien (nähe Barcelona), von wo aus er für einige deutsche Zeitungen Artikel schrieb, Deutsch unterrichtete und, ja, Lampen baute und verkaufte. Vielleicht keine zufällige Metaphorik, Vito brachte Licht zu den Leuten. Zu dieser Zeit lebte die junge Familie zeitweise in einem VW-Bus, eine unkonventionelle Lebensart und Abenteuerlust, die zeitlebens zum immer in Bewegung befindlichen Vito von Eichborn gehörte. ­Für eine so junge Familie ist ein VW-Bus nicht immer der optimale Ort als Basishaushalt und so zog die Familie zurück nach Deutschland und Vito wurde von 1973 bis 1980 Verlagslektor beim Frankfurter Fischer Taschenbuch Verlag. Dort betreute er die Entwicklung vieler Originalausgaben mit Autorinnen und Autoren sowie internationale Lizenzausgaben, aber auch die Märchen-Reihe sowie Werke aus der Reihe „Literatur der Arbeitswelt“ und entwickelte die Taschenbuch-Reihe „Mein Lesebuch“ in der Autorinnen und Autoren wie Alfred Andersch, Heinrich Böll, Michael Ende, Max von der Grün, Hubert Fichte, Peter Härtling, Walter Kempowski, Günter Kunert, Luise Rinser und viele andere ihre liebsten Bücher und Autorinnen und Autoren vorstellen konnten.

In dieser Zeit lernte ich Vito im Fischer Verlag gerade noch kennen. Er war 1980 auf dem Weg hinaus aus dem Verlag und ich kam gerade dort an, als Werbeassistent für den gesamten Taschenbuchbereich.

Das erste Verlagsprogramm 1981

1980 gründete Vito dann zusammen mit Dr. Matthias Kierzek, dem Inhaber und Geschäftsführer der Druckerei Fuldaer Verlagsanstalt in der Anteilsverteilung 50:50 den Eichborn Verlag in Frankfurt am Main, der im Frühjahr 1981 sein erstes Verlagsprogramm vorlegte. Zu Gute kam Vito für die Gründung des Verlages damals ein kleines Erbe, das er finanziell einsetzen konnte.

Der Eichborn Verlag in Frankfurt am Main war – neben seinem Sohn Thimon – Vito’s zweites Kind von Anfang an. Zum Eichborn Verlag gleich noch mehr.

1994 verkaufte Vito seine Verlagsanteile an den Partner Dr. Matthias Kierzek und betreute bis 1996 aus einem externen Büro heraus u.a. die Werke von Walter Moers.

Dann stieg Vito wieder aus und pachtete ein Hotel in der Dominikanischen Republik für einige Monate, mit der Idee dort einen Treffpunkt zu schaffen, auch für Autorinnen und Autoren, die dort ihre jeweiligen neuen Werke schreiben könnten. Die Idee war sicher gut, wollte sich aber irgendwie nicht finanziell auszahlen. Dann ereilte ihn der Ruf, zurück nach Deutschland zu kommen und er wurde von 1997 bis 1999 Geschäftsführer der Verlage Rotbuch und der Europäischen Verlagsanstalt.

1999 erwarb er den Europa Verlag  gemeinsam und auch mit dem Geld der Berliner Filmproduktion und Kinofilmverleihers Senator. 2004 verkaufte Senator Film den Europa Verlag an Vito und einen neuen Partner. Doch die Altschulden des Verlages waren zu hoch, Vito wollte den Verlag sauber abwickeln, der andere Partner wollte den Verlag fortführen. Der Partner übernahm die Verlagsanteile von Vito in 2005 und Vito schied aus. Einige Monate später musste der Europa Verlag Insolvenz anmelden.

Seit 2005 und bis 2023 war Vito freischaffend als externer Verlagslektor, Herausgeber von verschiedenen Werken, Literaturagent und Autor tätig und gründete dann parallel den Vitolibro Verlag. Mit Vitolibro wollte Vito „zu Unrecht nicht mehr lieferbare Bücher“ wieder auflegen und dem Publikum zugänglich machen, so z.B. das heute wieder irgendwie sehr aktuelle Buch „Tante Linas Kriegskochbuch“- Erlebnisse einer ungewöhnlichen Frau in schlechten Zeiten (Zweiter Weltkrieg von 1939 bis 1945) mit rund 150 Rezepten, wie man mit wenigen Zutaten ein überhaupt etwas genießbares Essen auf den Tisch stellen konnte, eingebettet in historische und authentische Erlebnisse dieser Zeit von „Tante Lina“, von den Autoren Rainer Horbelt und Sonja Spindler. Auch dieses Buch ist in den 90’er Jahren im früheren Eichborn Verlag erschienen und hatte sich dort mit 6 Nachauflagen verkauft. Neben solchen Wiederentdeckungen konzentrierte sich der Vitolibro Verlag auf das Thema „Norddeutsche Regionalia“- Titel wie zum Beispiel „Fast alles über die Lübecker Bucht“, oder „Fast alles über Travemünde“, oder „Fast alles über Lübeck“- Geschichte und Geschichten. Er nannte diese Bücher „Ein charmantes Sammelsurium“ zu dem jeweiligen Thema und Ort.

Im Moment bleiben die Bücher des Vitolibro Verlages lieferbar, „so lange der Vorrat reicht“, danach muss man sehen.

Die Bücher können derzeit über den Buchhandel und die Verlagsauslieferung Runge in Steinhagen bestellt werden. Die Website www.vitolibro.de, auf der alle lieferbaren Bücher zu sehen sind, bleibt noch online geschaltet.

Aber zurück, zu dem „ganz großen Fußabdruck“ von Vito und ganz sicher seinem eigentlichen „Lebenswerk“ in allen diesen Jahrzehnten – und Vito kann und darf völlig zu Recht darauf sehr stolz sein. Der 1981 gegründete Eichborn Verlag, „der Verlag mit der Fliege“. Dieser Verlag bleibt unvergessen bei allen, die daran teilnehmen konnten und durften, und bei denen, die die Bücher lasen und lesen, denn in vielen Bücherregalen stehen sie bis heute.

Und auch zurück zu einigen für Vito wichtigen Menschen in diesen ganzen Jahrzehnten, die ihn unterstützt haben, die seine „Vertrauten“ waren, die seine „Sparringspartner“ – und „Sparringspartnerinnen“ waren, bei denen er das offene Wort pflegen konnte und wusste, dass diese Dinge im kleinen Kreis und vertraulich besprochen werden, bei denen er sich „fallen lassen konnte“ mit seinen sehr vielfältigen Ideen und Überlegungen. Und auch wenn Vito nicht immer jedem Rat gefolgt ist, so waren ihm die kontroversen Auseinandersetzungen und die Gespräche darüber immer sehr wichtig und er nahm sich jede Zeit dafür. Auch alle früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des damaligen Eichborn Verlages können dies sicher bestätigen, die Tür des Verleger-Büros stand immer für alle offen für ein flinkes Gespräch oder eine Zigarette miteinander, außer er hatte gerade Autorinnen oder Autoren zu Besuch, um neue Projekte auf den Weg zu bringen.

In der Startphase des Verlages seit 1981 / 1982 waren einige Personen für Vito extrem wichtig (auch wenn später nach seinem Ausscheiden bei Eichborn 1996 durch ihn andere Meinungen kommuniziert wurden), aber rückblickend war es einfach so und das muss Vito jetzt akzeptieren.

Da gab es Dr. Matthias Kierzek mit seiner damaligen Druckerei, der Fuldaer Verlagsanstalt. Ein guter Kaufmann, ein Schachspieler (2. Hessischer Landes-Schachmeister im Blitz-Schach- Respekt!), der von sich selber sagte: „Ich kann die ganzen Bücher und Inhalte die im Verlag entstehen nicht beurteilen. Das müsst ihr im Verlag machen. Ich kümmere mich ums Drucken und die Finanzen“. Perfekt für Vito, ein Kaufmann an der Seite, der die ganze Buchhaltung großartig organisiert hat, finanziell den Überblick behalten hat, und wenn der Verlag mal wieder durch einen heißen und etwas umsatzschwächeren Sommer hindurch musste, der die Nerven bewahrte und für die Finanz-Puffer bei den Partner-Banken und nicht zuletzt durch Waren-Kredite der hauseigenen Druckerei immer wieder dafür gesorgt hat, dass „der Laden läuft“. Das ist, gerade auch wenn man einen Verlag neu gründet, nicht hoch genug zu bewerten. „Verlegen heißt vorlegen“ – sagte das nicht einst schon Ernst Rowohlt? – daran hatte sich auch 1981 und eigentlich bis heute nichts verändert.

Da gab es Uwe Gruhle. Uwe, der „Stille“, der sehr belesene und überaus substanzielle wie verbindliche „Hintergrundarbeiter“. Als Person fast genau das Gegenteil von Vito. Vito als neugieriger Journalist und „Macher“ immer in Bewegung, schnell in den Themen springend, immer auf der „Jagd“ nach der nächsten guten Idee.

Uwe, der Frühaufsteher, der sich jeden Tag zuerst einen Tagesplan zusammengestellt hat, was wichtig ist, der sich Themen in Ruhe aus verschiedenen Blickwinkeln angesehen hat, der stundenlange Telefonate mit Autorinnen und Autoren geführt hat um in den Lektoratsthemen das Beste zu erreichen, was Uwe auch dafür prädestinierte sehr gut und langfristig vorbereitete Presse-Kampagnen mit Journalistinnen und Journalisten, vor allem auch stark in den Feuilleton-Medien, vorzubereiten. Uwe konnte mit den Journalistinnen und Journalisten auf Augenhöhe sprechen – und alle hatten ihn gern. Nach Uwe’s Tod im Januar 1999 schrieb Rolf Vollmann in einem Nachruf in „Die Zeit“: „In Unterhaltungen strahlte er (also Uwe Gruhle) eine Art von stiller Klugheit aus (Weisheit, wenn’s nicht so ein Alterswort wäre; es war auch List dabei), von der man schwer sagen kann, wo auf der Welt man sie lernen könnte; wer mit ihm redete, der wusste dann, dass sich alles einrenken ließ. Er war der liebenswürdigste, bezauberndste Mensch, den man sich vorstellen kann.“

Uwe Gruhle sorgte zudem für einen erheblichen Teil der Marketing- und Pressetexte in allen Handelsvorschauen und Publikumskatalogen, was auch einen wichtigen Anteil zum damaligen „Kult-Status“ des Verlages beitrug.

1983 gab Vito mir, und das ist meine persönliche Fußnote hier, die Chance, mit 23 Jahren einer der jüngsten Vertriebsleiter in der Buchbranche im deutschsprachigen Raum zu werden und so haben wir in den früheren Verlagsbüros im Sachsenhäuser Landwehrweg 293 und später in der Hanauer Landstraße 175 und dann ganz später in der Kaiserstraße 66 in Frankfurt am Main Tag und Nacht an Ideen gefeilt, vorbereitet, verkauft, gelacht, konstruktiv gestritten und zwischendurch Tischfußball-Kicker gespielt. Herrliche Zeiten. Verrückte Zeiten. Unvergessliche.

Ganz wichtig in Vito’s Leben war schon sehr lange Rosemarie (Röschen) Lauer. Röschen begann in der Herstellungsabteilung des Verlags (ich meine, es war Ende 1985). Und sie war also schon länger im Verlag und es ist zwischen Röschen und Vito gar nichts „gewesen“. Irgendwie fällt einem da Klaus Lages Song „1000 mal berührt, 1000 mal ist nichts passiert …. Tausendundeine Nacht und es hat >Zoom< gemacht….“ ein. Eines Vormittages (irgendwann so 1987) kamen beide zu leicht unterschiedlichen Zeiten und völlig verschlafen in den Verlag. Auf meine Frage bei Vito was denn „so los sei“ – sagte er nur „Oooochhhh- Röschen und ich haben nur die ganze Nacht miteinander geredet“. Sehr süß. Seitdem waren sie ein Paar und im Jahr 1997 (keine knapp 10 Jahre später) haben sie tatsächlich geheiratet und so wurde aus Rosemarie Lauer dann Rosemarie von Eichborn.

Vito von Eichborn und seine Frau Rosemarie (Röschen) von Eichborn. Copyright für das Foto: © Foto privat

„Röschen“ war die ganzen Jahrzehnte der stabile Halt und Rückhalt in Vito’s Leben. Auch wenn Vito „mal eben wieder kurz ausbrechen musste“ – er hat immer wieder zu Röschen zurück gefunden – das war ganz sicher die große Liebe zwischen und mit den beiden. Röschen hat immer alles mit getragen was Vito sich gerade so jeweils ausgedacht hat und hat ihn immer unterstützt. Das wissen nur die ganz engen Freunde und umso wichtiger, dass es einmal gesagt wird. Ohne Röschen und alles, was sie getan und mitgetragen hat in den ganzen Jahrzehnten seit 1987, hätten wir aus meiner Sicht – und ich übernehme die volle Verantwortung für diese Formulierung – nur einen halben Vito erlebt, so wie wir ihn kennen.

Und auch das war Vito: Er hat seine Gedanken und sein Innenleben zum Verlagsprogramm, zum „Claim“ gemacht:

„Ja. Wir verstehen uns, im besten Sinne als >>Publikumsverlag<<. Weil wir Bücher machen, die wir gerne mögen. Literatur und Sachbuch, Bildbände und Satire. Aktuelles und Klassisches, vom Nonsens bis zum Tiefschürfen. Das Programm ist so bunt und widersprüchlich wie wir selbst.

Genau betrachtet, sitzen wir zwischen allen Stühlen (und fühlen uns dabei sehr wohl): Linken sind wir nicht links und Grünen nicht grün genug, Konservativen viel zu links und zu frech, Intellektuellen nicht intellektuell und Weltverbesserern nicht pädagogisch genug. Na und so weiter. Weil wir es niemandem recht machen wollen.

Wir sind neugierig. Aufmüpfig. Unbequem. Wir finden nichts schlimmer als Langeweile. Mögen nicht die Weltuntergangs-Larmoyanz. Wir wollen Bäumchen pflanzen. Und auch noch Spaß dabei haben.“

Dieses Zitat fand sich auf den Werbepostkarten und in den Werbeprospekten des Verlages und es steht letztlich für sich.

Das war das Erfolgsrezept der Jahre 1982 bis in die 90er hinein. Eichborn war absolut  im Zeitgeist und inhaltlich in allen nur erdenklichen (heute sagt man) Genres verlegerisch unterwegs. Beim Eichborn Verlag, damals, brauchte es keine sogenannte „Profil-Schärfung“ – wie es Marketingtechnisch heute heißt. Der Verlag stand für sich – mit allen Vor- und Nachteilen. Man mochte das, oder eben nicht.

Jedenfalls mochten es genügend Menschen. Und zu dieser Zeit waren es gerade viele jüngere Buchhändlerinnen und Buchhändler, die große Freude an dem Verlag hatten und ihn und seine Bücher unterstützt haben wo sie konnten, von den subversiven Humor-Büchern wie u.a. „Das kleine Arschloch“ von Walter Moers bis hin zur der inhaltlich gehobenen literarischen Reihe DIE ANDERE BIBLIOTHEK. Ich kann mich aber auch noch gut erinnern, dass nicht wenige Buchhandlungen, als das erste Buch von Walter Moers erschien, den ganzen Karton mit Büchern der damaligen gesamten  Novitätenauslieferung zurückgesendet haben – egal was neben Walter Moers noch in dieser Erstauslieferung an Neuerscheinungen zu finden war – mit  Kommentaren wie „Sowas haben wir nicht bestellt…“ oder „Das werden wir bei uns auf gar keinen Fall verkaufen….“ oder „An dem Tag, als Ihr Vertreter bei uns war, war ich gar nicht im Laden – wer hat das denn von uns bei Ihnen bestellt ?“ (Im Nachgang stellte sich heraus, dass es der Auszubildende war, der aber auch dazu stand, und so ging die Sache gut für ihn und den Verlag aus).

Die Sache ging sowieso gut aus, denn bereits wenige Tage später mussten die zurückgeschickten Bücher von den Buchhandlungen über die Barsortimente nachbestellt werden – das Publikum wollte sie haben.

1981 mit zuerst literarischen Büchern gestartet kamen die finanziellen Erfolgsdurchbrüche des Eichborn Verlages mit ganz anderen Titeln ab 1983.

So entwickelte sich der Verlagsumsatz von 1982 mit rund 450.000.- DM innerhalb weniger Jahre auf durchschnittlich 8. bis 10. Millionen DM (Kaufkraft vergleichbar mit heutigen Werten in Euro).

Der Verlags-Publikumskatalog hieß „Querkopf“. Das konnte man zu der Zeit so machen und es hatte ja damals, 1982 bis in die 90er Jahre, eine andere (und by the way streitbar-positive) Semantik. (Foto Querkopf).

Der regelmäßig erscheinende News-Letter für den Buchhandel und die Presse hieß „Eilfliege“. Hier gab es Vorabinformationen zu Neuheiten und Presse, Gewinnspiele für Auszubildende, Aufrufe zu Einsendungen für neue Bücher, zum Beispiel für das Buch „Bücher welken nicht!“, in dem die Buchhändlerinnen und Buchhändler ihre lustigsten und interessantesten Geschichten erzählen oder Zitate senden konnten, darüber, was sie mit ihren Kundinnen und Kunden erlebt hatten im täglichen Geschäft.

>> Das „richtige Manuskript“, die „richtige Idee“ muss zur „richtigen Lektorin oder Verlegerin“, dem „richtigen Lektor oder Verleger“ finden, die das Thema verstehen, der Autorin, dem Autor zuhören und dann für das jeweilige Projekt brennen und kämpfen gehen. << Das war immer Vito’s Meinung, und so kamen die ungewöhnlichsten Buchideen beim Verlag an, oft durch Telefonanrufe von Autorinnen und Autoren, oft einfach auch als Unverlangteinsendungen in der Post.

So geschehen mit „Der große Boß“ von Fred Denger (über 100.000 verkaufte Exemplare in den ersten drei Jahren), das Alte Testament in einer Art damaliger Szene-Sprache, und gleichwohl substanziell. Die Presse schrieb: „Dieser unheilige Knüller“ (Münchner Merkur) „…fasziniert wie ein Gute-Nacht-Krimi“ (Die Zeit). Die jüngeren und in erster Linie evangelischen Pfarrer haben dieses Buch geliebt, da sie, wie sie dem Verlag schrieben: „Endlich frischen Wind in den Konfirmandenunterricht bringen konnten und die Aufmerksamkeit der Jugendlichen wieder erreichten“. Das war nicht am Reißbrett im Verlag geplant, das hat sich so ergeben. „Publisher‘s luck“.

„Publisher’s luck“ war auch Walter Moers. Sein erstes Buch (AHA!)  und das Büchlein „Die Klerikalen“, sie waren vor der Erfolgsserie „Das kleine Arschloch“ und weit vor den „13 1/3 Leben des Käpt’n Blaubär“, eines Tages einfach in der Verlagspost. Die beiden Bände wurden im Verlag blitzschnell herumgereicht, „hier schaut mal – das ist irgendwie richtig gut“, hieß es schon mit einem gewissen Grinsen im Gesicht. Alle im Verlag haben laut gelacht und hatten großen Spaß. Zwei Stunden später rief Vito Walter Moers an und bot ihm die Verlagsverträge an. Walter Moers konnte den Anruf erst kaum fassen, er hatte vorher schon etliche Absagen von Verlagen erhalten, in einer dieser Absagen stand: „Herr Moers, Sie müssen noch kräftig üben.“ Den Rest der Geschichte kennen wir, Walter Moers war seitdem und ist es auch heute noch, einer der erfolgreichsten Illustratoren und Autoren im deutschsprachigen Raum.

Ebenso Einsendungen in der Post waren: „Total tote Hose“- 12 bockstarke Märchen in Szene-Sprache (über 700.000 Exemplare Gesamtauflage) von Uta Clauss und „Schummeln – aber richtig!“ von Thomas Brockmann mit mehr als 300.000 verkauften Exemplaren. (Geliebt von den Schülerinnen und Schülern, ungeliebt bei Lehrerinnen und Lehrern, Tabu-Bruch, und trotzdem wollten alle wissen, was in dem Buch steht).

Dann die Sponti- Sprüche, 5.- Marks-Bücher (über 1. Million verkaufte Exemplare), „Ich geh kaputt – gehs’t Du mit?). Zeitgeist eben.

Gleichzeitig investierte der Verlag immer in unkonventionelle Sachbücher wie z.B. das große Kompendium „Wohngifte“, dass dem Verlag gleich eine große Kettenklage sämtlicher Firmen und Mitglieder des Bundesverbandes der Deutschen Chemie-Industrie einbrachte und innerhalb von 48 Stunden rund 15.000 Exemplare aus dem Lager herausverkauft werden mussten bevor die „einstweilige Verfügung“ eintraf. Es hat geklappt, der Buchhandel war an der Seite des Verlages. Die Presse auch. Danke, auch nochmals dafür im Nachhinein.

Ebenso war der Verlag weiterhin sehr engagiert im Bereich der Literatur mit der Herausgabe der Werke u.a. der amerikanischen Autoren Richard Brautigan, John Fante, William Kotzwinkle oder auch seinerzeit die vielleicht erste wirklich und durchaus intellektuelle Krimi-Reihe für eher weibliches Publikum der Autorin Amanda Cross. (Die Werke von Amanda Cross sind heute dankenswerterweise im Dörlemann Verlag weiterhin lieferbar).

Die finanziellen Erfolge mit den ganzen Humor-Cartoon- und Satire-Programmen und die gleichzeitige Affinität von Vito für außergewöhnliche und mutige literarische und Sachbuch- Themen brachten dann 1989 einen weiteren großen Durchbruch für den Eichborn Verlag. Der Verleger Franz Greno hatte die Reihe DIE ANDERE BIBLIOTHEK gegründet gemeinsam mit dem Herausgeber der Reihe Hans Magnus Enzensberger. Zudem hatte Franz Greno in Nördlingen ein Juwel von einer Druckerei in der Bücher noch nach der ganz ursprünglichen Art hergestellt wurden. Die Buchstaben der Buchwerke wurden einzeln im Bleisatz gegossen und dann von Hand in Holzsetzkästen, jede Seite einzeln, zusammengesetzt und Korrektur gelesen. Unfassbar der Aufwand. Dazu kam das der Gestalter Franz Greno für jedes Buch einen individuellen Buch-Einband entwickelte, zum Teil mit sehr ungewöhnlichen Materialien. Auch Tapeten-Strukturen sollen zum Einsatz gekommen sein. Neben dem gab es von jedem der neuen Monatsbände eine auf ca. 300 Exemplare limitierte und nummerierte und in echtes Leder handgebundene Erstausgabe. Die Herzen der Buchliebhaber und Sammler waren erobert.

Aber genau diese Form der Herstellung mit dem unfassbaren, auch logistischem Aufwand, war das Problem von Franz Greno. So musste die Druckerei Greno den damaligen Bestseller von Christoph Ransmayr – „Die letzte Welt“ ganze 16 mal komplett neu mit der Hand setzen und immer wieder neu Korrektur lesen. Der Hintergrund war, dass aus einer Druckauflage immer nur zwischen ca. 8.000 und 11.000 Exemplaren entstehen konnten, danach waren die Bleibuchstaben ausgefranst und die jeweiligen Druckplatten konnten nicht mehr weiterverwendet werden.

Franz Greno wollte seinen Verlag verkaufen, aber gern als Buchgestalter weiterhin tätig sein und es war ihm wichtig, dass seine Druckerei weiter arbeiten konnte. Und so fanden Vito und Franz Greno zusammen, und auch Uwe Gruhle spielte bei dieser ganzen Verlagsübernahme eine sehr wichtige Rolle, als Ratgeber und auch dann bei der Pressearbeit für DIE ANDERE BIBLIOTHEK.

Ein neues Konzept musste her für die Reihe und so kam man nach langen Überlegungen zu dem Beschluss, dass es nur noch die jeweilige Erstausgabe eines neuen Monatsbandes in der schönen Ausstattung mit Bleisatz, mit besonderen Papieren und den individuell zum Buch passenden Einbänden geben sollte, sowie die limitierte Ausgabe handgebunden in echtem Leder. Wenn diese Erstausgabe vergriffen war, wurde eine sogenannte „Erfolgsausgabe“ des jeweiligen Buches gedruckt, diese dann ganz normal in der Ausstattung. So war das finanzierbar.

Und wieder „Publisher’s luck“. Gleich der erste Band unter neuer Flagge des Eichborn Verlages der Anderen Bibliothek im September 1989 – „Fromme Lügen“ der Autorin Irene Dische, wurde mit über 70.000 Exemplare in drei Monaten nach Erscheinen zum Bestseller.

Gleichzeitig passierte innerhalb weniger Wochen etwas ganz anderes. In der Wahrnehmung des Buchhandels wurde aus dem „Gemischtwarenladen“ Eichborn Verlag plötzlich zusätzlich ein literarisch richtig ernst zu nehmender Verlag, der sich was traut.

Ein unglaublicher inhaltlicher „Spagat“ wurde möglich von auf der einen Seite „Sponti-Sprüchen“ und „frechem Humor“, „Cartoons und Satire“, „aufmüpfigen Sachbüchern“, „Krimis und Historischem“ bis  hin  zu der von den Feuilletons gefeierten „großen Literatur“.

1989 war das Jahr, in dem der Verlag von Außen tatsächlich ganz anders wahrgenommen wurde und  noch mehr Zuspruch bekam.

Das war nicht zuletzt der Neugier und dem Mut von Vito zu verdanken, der immer meinte: „Das Gerede vom Verlagsprofil hängt mir zum Halse heraus“.

Im Verlag flossen in dieser Zeit „Arbeiten und Leben“, wie in einem „Flow“ zusammen. Man schaute nicht auf die Uhr. Was getan werde musste wurde getan. Viele Freundschaften, ja sogar Ehen entstanden, die bis heute gehalten haben.

Vito räumte Autorinnen und Autoren, Illustratorinnen und Illustratoren, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Verlag viele Chancen und die mit viel Vertrauen ein. Und wenn wir uns in der Verlagsbranche umschauen, wie viele der „Ex- Eichbörner“ dann auch in anderen Verlagen zu Verlegern wurden, zu Verlagsleitern, zu Programm-Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern, zu Lektorinnen und Lektoren mit großer Programmverantwortung, zu Vertriebs- und Marketing- Leiterinnen und Leitern, gestandenen Verlagsvertreterinnen und Vertretern … zu Leiterinnen und Leitern von Herstellungs- oder Lizenzabteilungen – die Liste ist lang, sehr lang.

„Ohne Geschichte keine Zukunft“ war auch einer von Vito’s Sätzen. Wie wahr. Was hätten wir alle ohne Vito’s „learning by doing“-Schule – und ohne die Zeit mit ihm getan und die vielen richtig guten Begegnungen mit anderen Menschen, die durch dies alles möglich wurden?

Und noch ein sehr tröstlicher Gedanke ist, dass es den Eichborn Verlag weiterhin auch heute gibt, seit Jahren in der Bastei Lübbe AG und die ANDERE BIBLIOTHEK auch, im Aufbau Verlag, und beide bringen nach wie vor mutige Verlagsprogramme heraus.

Das alles war und ist ganz, ganz großes Kino, das dank Vito möglich gemacht wurde und das zu Recht  in einigen der Nachrufe gewürdigt wurde, und auch in internen Gesprächen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über Vito: „Ein Verleger wie es sie heute kaum noch gibt“, „Instinktmann“, „Unkonventionelle Begeisterung“, „Volles Risiko“, „Unvergessene Vertreterkonferenzen und Feiern und Gespräche über die neuen Bücher bis zum Sonnenaufgang … “

Der frühere Eichborn-Vertreter Thomas Busch schrieb: „Lieber Vito, so ganz sicher bin ich nicht, ob Du nicht gleich wieder irgendwo auftauchen wirst. Für Überraschungen warst Du mit Deinem verschmitzten Lachen ja immer gut. Du Anstifter an vielem und besonders auch zu einer toleranten Streitkultur; auch Danke dafür! Hoffe das Du auf Uwe (Gruhle), Axel (Hundsdörfer), Gü (Günther Domnick), und Gerold (Friedrich) triffst und HME (Hans Magnus Enzensberger) wird bestimmt auch flüchtig mal reinschauen.“

Ergänzende Anmerkung Bodo HR: „Und Henning (Boetius) spricht sicher schon mit Dir über seine nächsten drei Romanmanuskripte“. „Und irgendwann sitzen wir dann alle wieder zusammen, diesmal mit einer schönen Aussicht“. Vito, Du hast Dich als Gruß in Deinen E-Mails immer verabschiedet mit „Neugierig winkt, Dein, Vito“. Wir winken zurück, Vito, Du bleibst unvergessen.

Bodo Horn-Rumold  

 

 

 

 

 

 

 

 

Kommentare (2)
  1. Was für ein treffender und anrührender Nachruf auf Vito von Eichborn. Erinnere mich noch bestens an das erste „Verlagshaus “ in Sachsenhausen, wo draußen an Apfelweintischen Vertreterkonferenz abgehalten wurde und über allem die Kinderwäsche baumelte, Vito schmunzelnd in kurzer Hose seinen Aschenbecher ( eine Fliege, was auch sonst?) auf dem Knie balancierend, da saß, und alle bestens gelaunt waren… War übrigens auch auf meiner Ausstellung „Verlage. Räume. Köpfe“ auf der Buchmesse zu sehen.Leider nicht digitalisiert.

  2. Was für ein berührender Text.Bis auf die drei Jahre zuvor bei Herbert und Thomas Grundmann in Bonn ist die immense Zeitspanne von Herrn von Eichborn seit der Gründung in 1981 nahezu ein zeitliches Spiegelbild meines gesamten beruflichen Werdegangs in dieser kleinen aber doch sehr netten Branche: vergleicht man sie mit der Lebensmittelbranche, so ist der Buchbereich natürlich ein Paradies In vielerlei Hinsicht….Bei allen Zumutungen und trotz geringer Erträge aus dem Buchhandel. Insoweit habe ich meinen Weg nie bereut.

    Der Nachruf zeigt großartig dass es auch einem, zumindest für lange Zeit, anfangs belächeltem und teils geschmähten „Underdog“ immer wiede und auch nachdrücklich gelungen ist zu beweisen was möglich ist. In Menge und Umsetzung und Umsatz. Auch wirtschaftlich zumindest zeitweise , leider nicht langfristig.

    Auch wenn ihm persönlich ein ökonomischer Reichtum versagt blieb so ist ihm, also dem Vito, doch immer wieder großartiges gelungen, worauf andere Personen mit theoretisch großem Namen sehr neidig waren. Ich weiß dass aus diversen Gesprächen ganz genau und kann dass ebenso persönlich nur zu Gut nachempfinden: den Hochmut und die Missgunst anderer….usw.

    Schade dass es ihn zu früh erwischt hat.

    Meine wenigen Gespräche mit ihn in den letzten Jahren waren vermutlich auch zu spät. Ebenso bedauerlich und leider traurig.

    Einen wie ihn wird es nie mehr geben. Heute überwiegen die glatten Kerle, weichgespült, nassforsch ohne Substanz und oft grün hinter den Ohren.

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