Das Autorengespräch Pieter Steinz und „Der Sinn des Lesens“

Der niederländische Literaturkritiker und Schriftsteller Pieter Steinz (* 1963) hat, nachdem bei ihm die tödliche Nervenkrankheit ALS diagnostiziert wurde, berühmte Werke, Klassiker zumeist, noch einmal gelesen und über sie 52 kurze Essays verfasst.

In ihnen setzt er seine Leseerfahrungen in Beziehung zu seinem Krankheitsverlauf, anrührend und lebensbejahend. Ein Zeugnis für die Wirkmächtigkeit von Literatur und für den Trost, der in ihr angelegt ist. Das Buch ist in der Übersetzung von Gerd Busse jetzt unter dem Titel Der Sinn des Lesens bei Reclam erschienen, im Herbst erscheint bei Knaus Steinz’ Bestseller Made in Europe.

Können Sie sich erinnern, wann und wie die Idee zu den 52 Essays über Ihre Lieblingsbücher entstanden ist?

Pieter Steinz
©Claartje Cox

Pieter Steinz: In der Anfangsphase meiner Krankheit hatte ich bereits eine Menge verrückter Geschichten erlebt, in denen untätige Mediziner, Ärzte, die diese Bezeichnung nicht verdienen, und Bekannte, die sich mit der Krankheit ALS keinen Rat wussten, eine Hauptrolle spielten. Eine Freundin, die bei der Zeitung arbeitete, bestand darauf, dass ich sie aufschreibe, doch ich wollte den vielen schon existierenden Krankengeschichten nicht noch eine weitere hinzufügen.

Da kam mir der Gedanke, dass ich die diversen Aspekte meiner Situation mit der Literatur verbinden könnte, die ich gerade las oder die ich gelesen hatte – denn das hatte ich schließlich mein Leben lang getan: als Genussleser und als Kritiker. Live by the book, die by the book. Bei den etwa sechzig von mir ausgewählten Werken handelt es sich übrigens nicht nur um meine Lieblingsbücher: Manchmal habe ich mich auch für eines entschieden, weil es perfekt illustrierte, was ich in einem bestimmten Moment fühlte oder dachte.

Stand die Auswahl der Autorinnen und Autoren und ihrer Werke von Anfang an fest, oder gestaltete sich das Ganze als eine Art work in progress?

Als ich anfing, hatte ich ein paar Bücher im Kopf, in denen ich Parallelen zu meiner eigenen Situation sah – oder besser: zu den Ängsten, die ich als frischgebackener ALS-Patient hatte: die schrittweise Lähmung des Sokrates’, die Platon im Phaidon beschreibt, das Locked-in-Syndrom des alten Notars Noirtier im Graf von Monte Christo oder der rasend schnelle Alterungsprozess im Bildnis des Dorian Gray. Doch schon bald ließ ich mich von einer Woche zur nächsten von der Wirklichkeit leiten: Die Kolumnen wurden zum Logbuch meiner Krankheit und, vor allem, meines körperlichen Verfalls. Die dazu passenden literarischen Werke präsentierten sich wie von selbst.

Wie waren die Reaktionen der Leser, als die Artikel erst wöchentlich, später alle zwei Wochen im NRC Handelsblad erschienen? Waren Sie von der Resonanz überrascht?

Die Reaktionen übertrafen alle Erwartungen. Jede Woche erreichten mich Dutzende E-Mails und handgeschriebene Briefe – ein Schreiben netter als das andere. Wildfremde Leser bekundeten ihr Mitgefühl, teilten mir ihre eigene Krankengeschichte mit und gaben mir gute Ratschläge – die ich übrigens meist in den Wind schlug (siehe den Beitrag über Die mehrspurige Straße zur Heilung). Manche Leser schickten sogar Blumen, Bücher oder andere Geschenke – ich war sehr gerührt. Einer Kolumne – Mein Leben als Mönch, in der ich erzähle, welche Bedeutung das Fernsehen in meinem Leben eingenommen hat – verdanke ich sogar eine »Gast-Redaktion« in der bei uns sehr populären Fernseh-Talkshow De Wereld Draait Door (Die Welt dreht durch/Die Welt dreht sich weiter): Für einen Abend lang durfte ich Gäste und Inhalte der Sendung bestimmen.

Die gesammelten Essays unter dem Titel Der Sinn des Lesens sind auch ein erfrischendes Plädoyer für die Aufwertung von Literatur. Was können wir tun, damit ihre Bedeutung wieder mehr in unser aller Bewusstsein rückt?

Das Bewusstsein, dass Romane mehr als eine reine Zerstreuung sind, darf sich schon etwas stärker verankern. Literatur bietet die einzigartige Möglichkeit, sich in andere Zeiten, Situationen und vor allem andere Personen hineinzuversetzen. Sie schafft eine Fluchtmöglichkeit, wenn man es schwer hat, und kann einem ein Gefühl des sich Fügens in sein Schicksal geben (»anderen ging es noch viel schlechter«). Erzählungen und Gedichte sind dabei brauchbarer als Sachliteratur. Wie Aristoteles schon in seiner Poetik dargelegt hat: In der Geschichtsschreibung geht es um spezielle Fälle, Literatur hat universelle Überzeugungskraft.

Welche Autoren oder Bücher sind Ihnen nach Abschluss der Arbeit noch eingefallen, die Sie eigentlich noch zum Thema eines Artikels hätten machen wollen?

Seitdem Der Sinn des Lesens abgeschlossen ist, bin ich von Hilfe noch viel abhängiger geworden – selbst bei Dingen wie Duschen oder dem Gang zur Toilette. Dieser Zustand der totalen Hilflosigkeit ist vielleicht am grausamsten von der Südafrikanerin Marlene van Niekerk in ihrer Parabel Agaat beschrieben worden, in der es um eine am ganzen Körper gelähmte Frau geht, die von ihrer schwarzen Haushälterin Agaat gepflegt wird. Übrigens hätte ich Probleme, wenn ich dieses Buch noch einmal lesen wollte, so wie ich es mit allen Büchern für meine Essays getan habe: Es ist zu schwer und zu dick, ich kann es nicht mehr mit den Händen festhalten.

Und davon abgesehen, fällt es mir schwer, mich auf Bücher zu konzentrieren, die etwas mehr Aufmerksamkeit vom Leser verlangen. Selbst für die nochmalige Lektüre eines meiner Lieblingsbücher, Wiedersehen mit Brideshead, könnte ich die Energie nicht mehr aufbringen. Der Roman wäre bei einer Fortsetzung der Kolumnen sicherlich zur Sprache gekommen: Niemand konnte so schön wie Evelyn Waugh über das gute Leben schreiben, das unwiederbringlich hinter einem liegt.

Pieter Steinz: Der Sinn des Lesens. Aus dem Niederländischen übersetzt von Gerd Busse. Nachwort von A.F.Th. van der Heijden (Reclam)

In der vorigen Woche sprachen wir mit [Peter T. Schulz [mehr…].

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