Das Sonntagsgespräch Richard Kämmerlings: Ich stelle fest, dass das Buch immer noch Leitmedium ist, allen Abgesängen zum Trotz

Am 2. April feiert die Tageszeitung „Die Welt“ ihren 70. Geburtstag. Seit 1998 liegt der „Welt“ jeden Samstag „Die Literarische Welt“ bei, die einzige regelmäßige reine Buchbeilage einer überregionalen deutschen Tageszeitung. Seit 2013 wird sie von Richard Kämmerlings geleitet.

Im Sonntagsgespräch verweist er auf die in Gefahr geratene traditionelle Symbiose zwischen Verlagen und Feuilletons, schrumpfenden redaktionellen Platz, die neue Kritiker-Konkurrenz im Netz und den Wert der professionellen Literaturkritik.

BuchMarkt: So lange ich bewusst Zeitung lese, verbinde ich „Die Welt“ immer auch mit einem Literaturteil, die „Literarische Welt“ knüpft seit 1998 an die Wochenzeitschrift aus der Weimarer Republik an, die 1925 vom dem späteren langjährigen „Welt“-Kritiker Willy Haas (1891-1973) gegründet wurde.

Richard Kämmerlings
© Martin U.K. Lengemann

Richard Kämmerlings: Mit der Neugründung der Literarischen Welt stellte sich der Verlag Axel Springer bewusst in die große – durch den Nationalsozialismus weitgehend zerstörte – Tradition deutsch-jüdischer Intellektualität, die ein Willy Haas exemplarisch verkörperte. Ein gewaltiges Erbe, das bis heute Verpflichtung ist. Auch der Welt-Literaturpreis wird jedes Jahr in Erinnerung an Willy Haas verliehen.

Es gibt nur noch wenige Zeitungen, die sich einen umfangreichen Literaturteil leisten. Hat die klassische Literaturkritik im Feuilleton noch eine Zukunft?

Ich stelle fest, dass das Buch immer noch Leitmedium ist, allen Abgesängen zum Trotz. Dazu zählen selbstverständlich nicht nur Romane. Große kulturelle und gesellschaftliche Debatten gehen von Büchern aus, denken Sie nur an Sarrazin oder Michel Houellebecq. Und fast jeder Blogger will am Ende doch in Buchform veröffentlichen. Aber natürlich erwächst der traditionellen Feuilleton-Kritik eine neue Konkurrenz im Netz. Und der Anzeigen- und Auflagenrückgang der Printausgaben stellt auch die Literaturkritik vor neue Herausforderungen.

Was bedeutet das konkret?

Es existiert traditionell eine Art von Symbiose zwischen Verlagen und Feuilletons. Die Pressearbeit vor allem der anspruchsvollen Literatur- und Sachbuchverlage ist auf die großen Feuilletons angewiesen. Viele Bücher werden erst durch die Besprechung einer breiteren Leserschaft bekannt. Und gleichzeitig finden Buchverlage im Feuilleton und im Literaturteil natürlich ein thematisch passendes und hochwertiges Umfeld für Buchanzeigen vor. Wenn manche Buchverlage heute mehr und mehr an solchen Anzeigen sparen, dann schrumpft aber auch der redaktionelle Platz für Rezensionen, Interviews oder Vorabdrucke. Und das trifft dann vor allem diejenigen Neuerscheinungen, die das Feuilleton am dringendsten brauchen. Große, populäre Titel, über die jeder redet, die werden immer vorkommen. Aber der Raum für das Schwierige, Nischige, Riskante, aber vielleicht Zukunftsträchtige oder Visionäre, der wird enger.

Wie reagieren Sie auf diese Situation?

Als erfahrener Kritiker ist man umso mehr gefordert; man muss noch stärker und bewusster auswählen. Das erfordert sehr viel Lektürezeit. Der Weg kann nur lauten: Wenn ein Buch, ein Autor, ein Thema wichtig ist, dann muss man dafür auch einmal eine Seite freiräumen. Anderes muss dann eben wegfallen. Manchmal ist die Kür wichtiger als das vermeintliche Pflichtprogramm, hat die auffällige Setzung Vorfahrt vor dem rezensorischen Alltagsgeschäft.

Ist diese Symbiose, von der sie sprechen, in Gefahr?

Sie ist jedenfalls nicht mehr selbstverständlich. Manche Buchverlage scheinen die im deutschsprachigen Raum über Jahrzehnte gewachsene Kritikkultur offenbar entweder für selbstverständlich oder vielleicht sogar für überflüssig zu halten. Mag sein, dass die Wirkung einer einzelnen positiven Besprechung nicht in jedem Fall sofort an den Scannerkassen messbar ist. Aber es gibt immer neugierige, literaturversessene Zeitungsleser, die durch Rezensionen zu Buchlesern werden. Wir haben zudem eine wichtige Orientierungsfunktion für den Buchhandel. Und schließlich erwarten viele Schriftsteller selbst eine ordentliche, kluge, kompetente Kritik: Sie wollen nicht nur gekauft und gelesen, sondern auch verstanden werden. Kritik ist ein unverzichtbarer Teil des literarischen Systems – ein Marketinginstrument, aber auch ein Korrekturmechanismus. Literatur ohne Kritik stagniert, wenn sie überhaupt wahrgenommen wird.

Es gibt neue Instrumente des Marketings, es gibt Buchblogger, die Verlage haben eigene Webseiten…

Das ist alles wunderbar. Alles ist begrüßenswert, was Bücher zu potenziellen Lesern bringt. Ich habe auch nichts gegen Amazon-Rezensionen. Aber diese neuen Felder des literarischen Diskurses – man könnte auch noch Lesezirkel im Netz hinzunehmen – ersetzen nicht die professionelle Literaturkritik, deren Geltungsanspruch auf der Autorität und Kompetenz des einzelnen Kritikers und dem Ruf der Institution „Feuilleton“ beruht. Der „Perlentaucher“ fasst das ja hilfreich zusammen: Im Idealfall gibt es dann zum neuen Walser vier, fünf, sechs kluge Besprechungen, wie eine virtuelle Talkrunde, ein Literarisches Quin- oder Sextett. Aber das droht wegzubrechen, und nicht deswegen, weil im Netz jetzt jeder Leser mitrezensieren kann. In jedem guten Kritiker steckt ein Amateur, im Wortsinne: ein Buch-Liebhaber.

Die Literarische Welt veröffentlicht ja nicht nur Rezensionen. Nach welchen Kriterien machen Sie das Blatt?

Wir verstehen uns als ein Wochenend-Magazin zur Tageszeitung, das heißt natürlich, dass wir auch die Textformen variieren müssen und dass auch der Unterhaltungsfaktor und die einladende Optik eine große Rolle spielen. Manchmal ist ein Porträt oder ein Interview vielversprechender als eine Rezension, der O-Ton des Autors spannender als sein Buch. Oder der Leser soll sich lieber selbst ein Bild machen, mit einem exemplarischen Vorabdruck – wie neulich bei den neuen Aufzeichnungen von Peter Handke bei Jung und Jung. Bei ganz wichtigen Titeln, sagen wir, einem neuen Franzen oder Walser, brauchen wir beides: Interview und Rezension, aber es gibt ja auch den Kulturteil der „Welt am Sonntag“ und das tägliche Feuilleton.

Im vergangenen Jahr hat die „Literarische Welt“ ihre Gründung vor 90 Jahren feiern können. „Die Welt“ wird am 2. April 70 Jahre alt. Wie sieht die Zukunft aus?

WeltN24 ist ein multimediales Nachrichtenunternehmen, es umfasst Zeitungen, gedruckte wie digitale, Onlineportale, einen Fernsehsender. Auch die „Literarische Welt“ ist längst nicht mehr nur ein wöchentliches Printprodukt. Wir sind Teil der digitalen „Welt Edition“, wir verbreiten unsere Inhalte tagesaktuell über Welt.de, über Twitter, und wir haben eine eigene, gut frequentierte Facebook-Seite. Das ist ein großer Gewinn, denn so kommen wir direkt mit unseren Lesern in Kontakt. Verlage, aber auch Buchhändler, verbreiten unsere Texte direkt über ihre eigene Seite. Diese neue literarische Öffentlichkeit ist ohne die sozialen Netzwerke gar nicht mehr zu denken. Über Klagenfurt oder eine neue Ausgabe des „Quartetts“ wird live getwittert – von zum Teil äußerst scharfsinnigen Leuten. In diesem Umfeld muss sich auch die traditionelle Literaturkritik bewähren. Das ist eine große Herausforderung und eine große Chance.

Die Fragen stellte Christian von Zittwitz.

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