Ein Blick in die Zukunft Was erwartet uns im Buchhandel 2050, Frau Tittel?

Für die branchenrelevanten Themen, die es nicht immer ins Heft schaffen, haben wir mit unserem wöchentlichen Sonntagsgespräch  eine Variante geschaffen, in der wir starke Themen besprechen und wichtige Persönlichkeiten der Branche zu Wort kommen lassen:

 „Die Digitalisierung zwingt uns zum Umdenken, die Chancen für kleinere und mittlere Läden stehen jedoch nicht schlecht“ –  das aktuelle Interview (ab Seite 24) mit Martina Tittel:

BuchMarkt: Auf einer Tagung der Internationalen Buchwissenschaftlichen Gesellschaft (IBG) über die Zukunft des Lesens haben Sie im September über Leser in der Buchhandlung 2050 gesprochen. Was erwartet uns?

„Egal ob 2030/35 oder 2050 – den reinen Leser und die reine Buchhandlung werden wir jedenfalls nicht mehr vorfinden…“, lautete das provokante Fazit Martina Tittels Vortrags bei der IGB

Martina Tittel:
Das kann ich Ihnen nicht sagen –  oder haben Sie vielleicht 1984 gewusst, dass wir uns heute im damals noch nicht erfundenen Internet tummeln, welches wir über in jedem Haushalt  übliche PCs bedienen, und schnurlos mit einem Mini-Akku-Gerät telefonieren werden? Abgesehen davon, begann die Entwicklung und Verbreitung dieser genannten Dinge ja schon Anfang der Neunziger…

Die Digitalisierung verändert das Einkaufsverhalten der Leser. Einzelhändler beklagen den Rückgang der Passanten-Frequenz in den Innenstädten. Spüren Sie diesen Trend auch in Ihrer Nicolaischen Buchhandlung?

Ja – und nicht nur wir.  Deutschlandweit ist ein Rückgang der Passanten-Frequenz spürbar. Die Online-Versender haben dahingegen in diesem Jahr bisher das erste Mal ein zweistelliges Plus erwirtschaftet.

Erkennen die Städte das Problem?

Die Wahrnehmungsgeschwindigkeit der Politik unterscheidet sich doch sehr von der Wahrnehmungsgeschwindigkeit der Händler und deren Interessenverbänden. Problembewältigkungsstrategien sind derzeit nicht erkennbar  – im Gegenteil, die Zeiten,  in denen die Bürger im stationären Einzelhandel einkaufen gehen dürfen, bleiben weiterhin reguliert. Onlinehandel hingegen geht immer.

Inwiefern verändert die Digitalisierung das Einkaufsverhalten?

Wir Menschen sind bequem. Wenn es geht, nehmen wir den kürzesten oder schnellsten Weg. Online eine Bestellung abgeschickt heißt, die Sache ist erledigt, ich muss mich kein zweites Mal damit befassen, keinen Einkaufszettel schreiben, etc. Zeit ist ein knappes Gut, und wenn ich über zu wenig davon verfüge, kann ich auch nicht mit Genuss und Entdeckerfreude durch einen Buchladen streifen, sondern bestelle das Nötigste online.

Und der Buchladen um die Ecke hat das Nachsehen?

Uns gehen natürlich viele Kunden verloren, die alles Mögliche online bestellen. Damit erledigen sich auch Wege, die dann einfach nur an uns vorbei führen und im besten Fall in unsere Läden. Hole ich meine Lebensmittel nicht mehr auf dem Markt oder im Kiez-Supermarkt, komme ich nicht mehr am Zeitungshändler, am Buchladen oder am Blumenhändler vorbei.

Aber der größte Onlinehändler erprobt gerade auch das stationäre Geschäft.

Ja klar, das ist ein großes Schaufenster! Da kann man zum einen prima das Kundenverhalten beobachten und testen. Zum anderen kann man hier die Marke nochmals präsentieren und visibel machen. Eine Filialoffensive von der Firma A. kann ich mir derzeit nicht vorstellen.

Wie wichtig ist es für stationäre Buchhandlungen, einen eigenen Webshop zu haben?

Auch der eigene Webshop ist ein Schaufenster sowie ein Signal an den Kunden: Schau, auch bei mir kannst Du online einkaufen, ich gehe mit der Zeit. Allein aus Image-und Servicegründen sollte man einen Webshop haben –  andere  Gründe gibt es nicht, denn der kleine und mittlere Buchhandel verdient damit so gut wie kein Geld.

Sind gedruckte Bücher in Gefahr?

Im Fachbuchbereich sind wir doch jetzt schon weitgehend digital. Dies wird sicherlich auch andere Bereiche des Sortiments erfassen. In vielen Bereichen wie Reiseführer, Ratgeber, Kochbücher und beim allgegenwertigen Taschenbuch merken wir doch jetzt schon den digitalen Einfluss. Selbst die E-Reader werden ja inzwischen als Übergangsmodelle bezeichnet. Vermutlich werden die Smart-Phones noch größer, dann kann man besser lesen. Vermutlich werden wir auch Smart-Glasses, Smart-Watches und visual Wallpapers bekommen, mit denen wir dann unser Informations-und Unterhaltungsbedürfnis decken können.

Was bedeutet das konkret?

Wahrscheinlich werden die verschiedenen Medienkanäle wie TV, Radio, Verlage aller Art und auch die Spiele-Industrie zu einem Anbieter verschmelzen. Warum nicht die neuen Rezepte in einer virtuellen Koch-Show erproben? Oder den Krimi selbst erleben und möglicherweise beeinflussen können? Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja – es wird noch gedruckte Bücher geben –  wahrscheinlich. Und es werden besonders schöne Bücher sein, also eine Nische.

Sind Buchhandlungen, so wie wir sie heute kennen, Auslaufmodelle?

Ja. Wir werden uns verändern müssen. Seit Jahren spreche ich über Themenwelten, mit denen wir die Menschen  besser erreichen und höhere Verkäufe erzielen können. Vermutlich wird es Buchhandlungen, wie wir sie heute kennen, so nicht mehr geben.

Was bringt uns dann Ihrer Meinung nach die Zukunft?

Vermutlich werden eher kleine und mittlere Läden überleben, wenn sie sich wandeln ins Kinderspiel-und Geschichtenparadies , in den Treffpunkt Buch: Krimi oder Fantasy oder gehobene Literatur oder, oder, oder. Dort können Bücher noch haptisch verkauft werden. Auch dort kann man sich an die Themenplattformen der Verlage andocken, um dann  die neuesten Bücher – haptischer oder digitaler Art –  in diesem – nennen wir es Themenclub X – zu besprechen, sich vorstellen zu lassen oder sich mit anderen Lesern auszutauschen.

Zurück zur Nicolaischen Buchhandlung. Wie sieht Ihre Strategie aus?

Permanentes Werben über Flyer, Website, Newsletter, Presse, soziale Medien; Interesse wecken,  Erlebnisse anbieten, ständig das ‚Gesicht‘ der Buchhandlung verändern, egal ob im Schaufenster oder im Innenbereich, indem man immer wieder andere Titel frontal stellt oder die Tische von links auf rechts dreht –  nur, damit sich der visuelle Eindruck für den Kunden immer wieder verändert. Oder auch im gesamten Laden wieder einmal die Anordnung aller Tische verschieben. Wir haben inzwischen zwei und acht Veranstaltungen im Monat, ändern die Schaufenster jede Woche bis höchstens zwei Wochen und räumen ständig um.

Es gibt also Hoffnung für die Branche?

Die Menschheit besteht zu 84 Prozent aus Bewahrern und nur zu 16 Prozent aus Veränderern. Wenn wir die richtige Mischung Mensch zusammenstellen, Anpassungsleistungen erbringen, neue Geschäftsmodelle denken  und das probate Geschäft solange bewahren, wie es nachgefragt und gebraucht wird, haben wir doch gute Chancen.

Die Fragen stellte Margit Lesemann

Zur Person: Martina Tittel führt seit knapp drei Jahren die Nicolaische Buchhandlung, die älteste Buchhandlung Berlins. Als ehemalige Beraterin im Buch-und Einzelhandel kennt sie die Branche und hat außerdem langjährige Erfahrungen in Führungspositionen,  u.a. als Geschäftsführerin des KulturKaufhauses Dussmann. Parallel zu ihrem Alltag in der Nicolaischen Buchhandlung ist Martina Tittel im Börsenverein aktiv und Vorsitzende des Handelsausschusses der IHK Berlin. 

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