Der Filnwissenschaftler Dr. Rolf Giesen über den heutigen Filmbuchmarkt „Was wirklich fehlt, ist eine Kriminalgeschichte des Films, besonders der Wirtschaftskriminalität“

Vor 20 Jahren waren Filmbücher noch ein gutes Geschäft, auch Großverlage hatten eigene Reihen im Angebot. Heute ist das Segment so gut wie verschwunden . Das war Anlass für Fragen an „Dr. Horror“, den Filnwissenschaftler Dr. Rolf Giesen.

Dr. Rolf Giesen im Filmmuseum Beijing:  Spezialgebiete des Filmwisenschaftlers sind Trick- und Animationsfilme und alles, was man unter phantastischem Film subsumiert, insbesondere der Horror-Film. Das brachte ihm schon in den 1980er Jahren den  „Ehrentitel“ Dr. Horror ein. Neben seiner Lehrtätigkeit als Gastprofessor (u.a. an der Communication University of China in Beijing) wirkte er auch an Film- und Fernsehproduktionen mit.

Noch in den 1960er Jahren gab es bei uns so gut wie keine Sekundärliteratur zum Film. Wie ging das dann eigentlich los?

Dr. Rolf Giesen: Als ich mich dafür zu interessieren begann, um 1961-62, war Filmliteratur tatsächlich ein wenig beackertes Feld. Ich erinnere mich nur an eine sehr populäre Veröffentlichung, die in zwei Bänden (Stumm- und Tonfilme) mit Sammelbildern beim Cigaretten-Bilderdienst erschienen war: „Vom Werden deutscher Filmkunst“, verfasst von einem Ufa-Mann, Oskar Kalbus. Später gab es einige populär geschriebene deutsche Filmgeschichten von Curt Riess, der gerne auch was erfunden hat, damit es sich besser las, und von Heinrich Fraenkel, einem Zeitzeugen noch aus Stummfilmtagen.

Sie sind Autor von über 60 Büchern, darunter auch englischsprachige für den US-Markt. Das skandalöseste war KINO – WIE ES KEINER MAG. DIE SCHLECHTESTEN FILME DER WELT (Ullstein, 1984). Das Buch war nicht nur eines der erfolgreichsten Filmbücher in Deutschland, sondern löste auch eine Kontroverse über den deutschen Film aus.

Zu der Zeit rührten sich langsam die Oberhausener und Literaturhistoriker, die Gefallen an der Film-Exegese fanden. Ihre Schule war die Cinémathèque francaise, ihre Lektüre die Cahiers du cinéma.

Bei uns wurde dann so gut wie alles via Frankreich gefiltert.

Ja, aus der Nouvelle vague entstand Alexander Kluges Kopfgeburt des Jungen Deutschen Films, aus den Cahiers die Filmkritik und die Filmgeschichtsschreibung à la Ulrich Gregor und Enno Patalas. Ich habe zum Glück die Filmkritik und Gregor/Patalas ebenso gelesen wie Walt Disney-Die Kunst des Zeichenfilms, Die neue Trickfilm-Schule und, 1971 beim Festival in Oberhausen erworben, einen amerikanischen Band über Horrorfilme, den der zu früh verstorbene Carlos Clarens geschrieben hat. Ich muss sagen, im Gegensatz zu dem ernsthaften Protestanten Gregor waren wir eher Hedonisten.

Die Filmkunst zu sehen war Pflicht, Krimis, Horror und Science Fiction Vergnügen?

Wieder ja, das war, bevor die Blockbuster eines Lucas oder Spielberg mit merkantiler Macht die Unschuld aus dem Kino vertrieben und mit ihnen die endgültige Standardisierung durch den US-Großfilm begann. Als ich nach Berlin kam, gab es in den Off-Kinos Reihen zum – was man heute übertrieben –  Genrefilm nennt. Es gab, auf halber Amateurbasis, Zeitschriften zum Gruselfilm und Importe aus Amerika, etwa die Famous Monsters of Filmland eines Forrest Ackerman oder Cinefantastique, gleichzeitig den Versuch zu rehabilitieren, was eigentlich nicht zu rehabilitieren war. Suhrkamp brachte nicht nur Stanislaw Lem, sondern auch Lovecraft-Übersetzungen!

Damals spaltete sich das Lager der über den Film Schreibenden endgültig, nach französischem Vorbild, in E und U.

Es war tatsächlich wie ein Schisma. Nachdem ich in der Populären Kultur bei Ullstein im Frühjahr 1984 „Kino – wie es keiner mag“ veröffentlicht hatte, grinste ein Kollege von der Kinemathek, mit dem ich eine Special-Effects-Ausstellung für die Berlinale zusammenstellte, da hätte ich ja einmal versucht zur Vordertür hereinzukommen.

Was hat er damit gemeint?

Das ist dir gründlich misslungen, für dich ist die Hintertür, der Dienstboten-Eingang bestimmt. Aber das war die Geburtsstunde der sogenannten Filmwissenschaft, in die ich mich nur notgedrungen eingereiht habe. Ich war und bin Filmhistoriker. Ich analysiere nicht Filme nach dem Sehen, sondern versuche ökonomische, dramaturgische und technische Hintergründe von Filmproduktionen zu beleuchten. Das ist oft der wahre Spaß. Wie sagte Hitchcock einmal verächtlich: All the action on the set, nothing on the screen! Ich kann das nur bestätigen – und was wirklich fehlt, ist eine Kriminalgeschichte des Films, besonders der Wirtschaftskriminalität. Ich kann das leider nicht schreiben. Die Prozesse nach Kino – wie es keiner mag haben mich ein klein wenig eingeschüchtert.

In den 1980er- und 1990er Jahren schien der Markt geradezu zu explodieren. Es gab eigene Reihen, etwa bei Rowohlt, Goldmann oder Heyne, und sogar so ein Phänomen „das Buch zum Film“. Wie kam es dazu (und was war das für ein merkwürdiges Phänomen)?

Anfang der 1980er Jahre, angesichts der enormen Blockbuster-Welle der Amerikaner, war das Verlangen, etwas mehr über Film zu erfahren, und das in populärer Form, gewachsen. Die Stadtmagazine berichteten über Film, die Zeitschrift Cinema gab eine Filmbuch-Reihe heraus, bei Goldmann erschienen, von dem 1985 beim Bergsteigen tödlich verunglückten Joe Hembus mit-initiiert, Übersetzungen der amerikanischen Citadel-Bücher, Jörg Fauser schrieb über Marlon Brando und Blues für Blondinen, Heyne gründete eine eigene Filmbibliothek.

Und es gab 1985 Ihr zweibändiges Lexikon des Phantastischen Films.

Erst Jahre später habe ich gemerkt, dass das damals meine wichtigste Veröffentlichung war, das aus einem einzigen Grund die Aufmerksamkeit junger Fans wie Volker Engel, Tom Tykwer und anderer erregte.

Warum?

Es informierte nicht so sehr über die Filme und was andere darüber zu sagen glaubten, sondern über die Macher. Auf einmal war da, übertrieben gesagt, eine Karriere-Perspektive da. Sehr wichtig war auch, dass der Videomarkt damals erst im Entstehen war, dass so gut wie nichts digitalisiert war und es noch keine Entwertung dieser Art von Arbeit durch das Internet gab. Disney brachte damals einen mit teilweise kruden Computergrafiken garnierten Film Tron heraus, und kaum jemand wollte das damals sehen. Die Computerstationen in Kubricks 2001 waren alle noch analog mit 16mm-Projektionen realisiert.

Das war nicht die einzige neue Entwicklung?

Bei Taschen ist in diesem Jahr „Filme der 2010er“ neu erschienen – und „Filme der 2000er“ und „Filme der 1990er“ wurden aktualisiert neu aufgelegt (durch Klick auf Cover mehr Infos)

Aus Amerika herüber kamen auch die Novelizations, die Nacherzählungen von Kino- oder Fernsehstücken. In den USA gab es das seit den 1920er, 1930er Jahren, bei uns eher selten. So erzählte Thea von Harbou ihren Metropolis-Film parallel zum Filmstart in einer Publikation des Scherl-Verlags nach. Später war fast jedes Titelbild eines Jerry-Cotton-Heftes irgendeinem Filmkrimi entnommen. Da begann sich anzudeuten, was wir heute Intermedialität nennen. Der Siegeszug des Internet hat vieles gerade in der Film-Recherche erleichtert, aber den Filmbuch-Markt international gekillt. In Amerika gibt es immer noch einzelne großformatige, reich und bunt bebilderte Coffee table Books. Taschen hat da Schönes zu Disney gemacht, gerade jetzt weitere Titel zum Thema Film, aber sonst ist hierzulande mit der Digitalisierung das Licht aus. Überhaupt kommt den meisten, wenn sie das Wort Geschichte hören, das große Kotzen.

Was bestärkt Sie in dieser Einsicht?

Irgendeiner dieser unheimlichen Influencer im Internet hatte ein Rezensionsexemplar eines Horrorfilms bekommen, der Mitte der 1960er Jahre produziert worden war, und redete die ganze Zeit davon, während er die Ausstattung der Blu-ray prüfte, dass ihn alles, was vor 1980 entstanden sei, nicht mehr interessiere. Ich selbst hatte mit einem Kollegen die Geschichte einer Zeichenfilm-Produktion 1944 in nächster Nähe des Konzentrationslagers Dachau recherchiert, aber als ich mit einem Hersteller darüber sprach, meinte der nur abschätzig, sein 14jähriger Sohn interessiere sich nicht für so was. Nur das schien für ihn der Gradmesser zu sein. Ich war zu feige, ihm zu sagen, wenn deinen Sohn Dachau oder Auschwitz nicht interessieren, dann ist seiner Generation nicht zu helfen. Ich habe es nur still gedacht und bin in die „innere Emigration“ gegangen.

Naja, so ganz stimmt das nicht.

Mittlerweile schreibe ich viel in englischer Sprache, aber auch dieser Markt ist kleiner als man denkt. So haben wir Film-Hedonisten verloren, die Exegeten und Schreibtisch-Filmer haben gewonnen, vorausgesetzt ihre Hochschulschriften werden subventioniert. Wir leben in einer Zeitenwende: Kino-, Verlags- und Autoren-Sterben gehören zwangsläufig zu den Geburtswehen des sich ganz ferne abzeichnenden dystopischen Zeitalters.

Warum kauft man sich denn ein Buch, das den soeben geschauten Film erzählt?

Als 1966 die Verfilmung der ersten Kapitel der Bibel in die Kinos kam, hieß es nicht: Der Film zum Buch. Scherzkekse machten auf das Buch aufmerksam, indem sie meinten: Das Buch zum Film. Film und Fernsehen hatten einen großen Einfluss auf das Leseverhalten. Ich weiß, dass ich anfing Karl May zu lesen (damals durfte man das noch ungestraft, es war ja sogar Lieblingslektüre im sogenannten Führerhauptquartier), als ich im Kino den „Schatz im Silbersee“ gesehen hatte. Aber Novelizations, ich weiß es wirklich nicht, weil es nur wenig wirklich gut geschriebene gibt, die das Spektrum des einmal auf der Leinwand Geschauten erweitern. Diese Art Literatur ist irrelevant geworden, seit es Streaming und Blu-rays gibt.

Dr. Rolf Giesen (l) und sein Gesprächspartner Martin Compact ((in diesem Jahr als „Krimi-Lektor“ vierzig Jahre unterwegs) in jungen Jahren bei der Arbeit damals für ein Ullstein Buch

In den 1990er Jahren tauchten vermehrt Kleinverlage auf, die sich auf Filmbücher oder populärkulturelle Themen spezialisierten. Das ist kein Markt mehr für die Großverlage?

Längst nicht mehr. Inzwischen haben aber auch die Kleinverlage aufgegeben, es sei denn, sie können dafür Subventionen kassieren oder es handelt sich um echte Philanthropen, die das aus Liebe und Überzeugung machen und es sich leisten können. Von diesen Filmautoren-Freunden gibt es noch zwei, drei in Deutschland. Ähnlich immer noch dem deutschen Film, der ohne Förderungen, einschließlich Verleihförderung, leblos wäre. Ich kenne einige der Autoren und weiß darum, warum ihre Bücher so langweilig sind. Es gilt vielleicht noch ein Sprichwort, das ich in Kino – wie es keiner mag zitiert habe: Wenn sie im Leben schon nichts erlebt haben, warum müssen sie es dann auch noch verfilmen – oder schlimmer, möchte ich ergänzen: über solche Filme auch noch Abhandlungen und Essays schreiben?

Das Gespräch führte Martin Compart

Kommentare (1)
  1. Tolles Interview! „Kino, wie es keiner Mag“, die genannten Bücher von Fauser (und alle anderen) habe ich immer noch. Auch noch Joe Hembus und eine Reihe Schauspielerbiographien aus dem Heyne Verlag. Was waren das für Zeiten, Filmtipps aus dem TIP, Zeit, Spiegel, Cinema. War eine schöne Zeit. Gab sogar noch ein Raucherkino in unserer Stadt. Und damals habe ich noch nicht mal geraucht.

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