Martina Tittel über die Folgen der Pandemie und Rezepte für eine Belebung der Innenstädte „Wie bleibe ich Drehpunkt?“

Martina Tittel: Seit über sechs Jahren geschäftsführende Gesellschafterin der Nicolaischen Buchhandlung in Berlin-Friedenau, ist sie vor kurzem zur neuen 1. Vorsitzenden des Landesverbands Berlin-Brandenburg im Börsenverein gewählt worden. Ehrenamtlich engagiert sie sich außerdem als Vorsitzende des Handelsausschusses der IHK Berlin und im Präsidium des Handelsverbands Berlin-Brandenburg (Foto: Amin Akhtar)

Im aktuellen August-BuchMarkt sprachen wir mit Buchhändlerin Martina Tittel darüber, wie Buchhandlungen die Corona-Krise erlebt und  überlebt haben und wie wichtig dabei ein intaktes Umfeld und eine funktionierende Innenstadt ist:

BuchMarkt: Ihre Buchhandlung befindet sich in bester Einkaufslage. Wie sind Sie bisher durch die Corona-Krise gekommen?

Martina Tittel: Ich bewundere alle Kolleginnen und Kollegen, die während der Pandemie schließen mussten, für ihren
Mut und ihr Durchhaltevermögen. Die
Berliner Buchhandlungen durften ja als
systemrelevant geöffnet bleiben. Weil die
Filialisten geschlossen hatten, haben wir
im ersten Lockdown neue Kundinnen und
Kunden gewonnen, und einige sind bei uns
kleben geblieben.
Der Einzelhandel hier im Kiez ist gut
durchmischt. Es gibt neben einigen Filialen
viele kleine inhabergeführte Läden,
und drei Mal in der Woche sorgt ein Markt für Passantenfrequenz. Wir sind hier bisher ganz gut durch die Pandemie gekommen.

Wie wichtig ist ein intaktes Umfeld für den Einzelhandel?

Eine Einkaufsstraße funktioniert wie ineinandergreifende Zahnräder: Entstehen zu viele Shisha-Bars, hat man zwar auch viele kleine Läden, aber das Publikum verändert sich. Und schon funktioniert das ganze System nicht mehr.

Und als Folge dieser Entwicklung müssen einzelne Geschäfte schließen?

Umfragen des HDE zeigen, dass bundesweit etwa ‹Œ50 Prozent der Einzelhändler überlegen, ihr Geschäft aufzugeben. Wir erleben jetzt schon, dass Läden in die Insolvenz gehen, und dieser Trend wird sich noch verstärken. Die Schließungen werden vor allem die großen Einkaufsmeilen treffen – in Berlin beispielsweise den Alexanderplatz und die Tauentzienstraße.

Warum?

Dort waren in vorpandemischen Zeiten viele Büroangestellte unterwegs, die jetzt im Homeoffi–ce sind, und die Touristen sind auch monatelang weggeblieben. Subzentren wie Friedenau werden nicht so stark betroffen sein, auch wenn es hier ebenfalls zu einigen Schließungen kommen wird.

Manche Einzelhändler haben schon vor der Pandemie ums Überleben gekämpft.

Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas. Der stationäre Einzelhandel wird schon lange von steigenden Gewerbemieten gebeutelt, und es gibt überhaupt keinen Schutz für Gewerbemieter. Gleichzeitig müssen wir gegen Amazon, Zalando und Konsorten bestehen. Wer im Internet Sandalen in zwei Größen und vier Farben bestellt, um dann ein Paar zu kaufen und sieben zurückzuschicken, begeht unfassbare Umweltsünden. Klar, das Bestellen auf dem Sofa ist bequem, aber man muss auch die Folgen bedenken. In den Innenstädten führt dieses Kaufverhalten zu einem Rückgang der Kundenfrequenz, was wiederum der Gastronomie schadet. Cafés und Restaurants bringen Leben auf die Straße und sorgen hier im Kiez für ein südländisches Flair. Wer ein Buch gekauft hat, kann im Café nebenan gleich mit der Lektüre beginnen.

Inwieweit trägt Ihr Onlineshop zu Ihrem Erfolg bei?

Als ich die Buchhandlung šŒ›‹ 2015 übernommen habe, habe ich noch vor der Eröffnung einen Webshop installiert. Inzwischen können uns die Kunden über verschiedene Zugänge – Buchkatalog, Genialokal, Google oder direkt Nicolaische Buchhandlung – erreichen. Die Bestellungen werden dann zugestellt oder – im schönsten Fall für uns – in der Buchhandlung abgeholt. Während der Pandemie hat der Onlineverkauf noch einmal um 30Œ Prozent zugelegt. Wer im stationären Einzelhandel bestehen will, muss heute auch die digitalen Möglichkeiten nutzen. Die Auffi–ndbarkeit im Netz ist ein entscheidender Faktor. Sobald die Umstände es erlauben, geht auch unser Veranstaltungsprogramm weiter, aber eins wird dann neu sein: Wenn immer die Verlage ihre Genehmigung erteilen, werden wir unsere Lesungen filmen und auf allen Social-Media-Kanälen ins Netz stellen. Das haben wir während der Pandemie schon mit unseren Online- und Schaufensterlesungen gemacht, und die Anzahl der Aufrufe hat mich positiv überrascht.

Kann man mit einem Webshop auch Kunden zurück in die Läden holen?

Entscheidend ist die Verzahnung von stationärem Geschäft und Onlinehandel. Neben einem individuellen Sortiment und einer fachkundigen Beratung erwarten die Kunden heute auch ein digitales Angebot. Viele sind immer noch überrascht, dass sie ein bis 18 Uhr online bestelltes Buch schon am nächsten Tag bei uns abholen können. Natürlich ist unsere Zeit für die Erstel- lung digitaler Angebote begrenzt, denn wir müssen uns auf unser Kerngeschäft konzen- trieren. Aber man kann sich ja Hilfe holen. Ich unterstütze beispielsweise das Projekt ZukunftHandel, das der HDE gemeinsam mit Google und weiteren Partnern ins Leben gerufen hat. Es macht kleine, unabhängige Unternehmen kostenlos fit für digitale Lösungen, mit denen sie sich dann besser am Markt behaupten können. Wenn viele Branchen solche White- Label-Shops hätten wie der Buchhandel, bekämen das die Internethändler zu spüren. Die angedachte Steuer auf den Onlinehandel halte ich hingegen für kontraproduktiv. Wir stationären Händler wollen diesen sinnvollen digitalen Kundenservice ja auch anbieten. Wir müssen  unsere Belange noch besser gegenüber der Politik formulieren.

Was erwarten Sie von der Politik?

Warum entscheiden die Städte über die Köpfe der Menschen hinweg? Sinnvoll wären Quartiersmanager, die einen Dialog zwischen den Bewohnern und der Politik herstellen – beispielsweise über Leerstand in der Zeit post Corona oder missliche Verkehrssituationen. Die Bedürfnisse der Anrainer sollten ernst genommen werden. Das vermisse ich in Berlin.

„Buchhandlungen haben das Zeug zu kulturellen Kommunikationspunkten im Kiez“

Welche Rolle kann speziell der Buchhandel für eine funktionierende  spielen?

In einer Buchhandlung führt man andere Gespräche als beim Bäcker oder beim Metzger. Wenn ich mich im Laden mit einem Kunden unterhalte, entsteht schnell eine größere Gesprächsrunde. Auch unsere Veranstaltungen dienen dem Austausch, und unser monatlicher, persönlicher Newsletter mit Buchempfehlungen und einem Kochrezept sorgt ebenfalls für Gesprächsstoff  im Laden. Buchhandlungen haben das Zeug zu kulturellen Kommunikationspunkten im Kiez. Als Vorsitzende des Landesverbands will ich dieses Thema bei Regionaltreffen mit Buchhandlungen in Brandenburg und Berlin diskutieren. Wie werde – oder bleibe – ich ein Drehpunkt? Das ist eine wichtige Funktion, die die Kundenbindung stärkt.

In diesem Sommer haben Sie sich an einem Literaturfestival beteiligt, das ein Kieztheater für Kinder und Jugendliche an der frischen Luft veranstaltet hat. Wie wichtig ist Ihnen die Kooperation mit der Nachbarschaft?

Das Theater hat bei uns offene Türen eingerannt. Bei Kooperationen mache ich sofort mit, auch wenn sie viel Arbeit bedeuten. Denn solche Events sind eine gute Brücke zu den Kunden. Außerdem habe ich darüber einen tollen Veranstaltungsort kennengelernt und bin nun mit dem Manager im Gespräch über Kooperationen. Es ist wichtig, offensiv auf mögliche Partner zuzugehen. Wenn ich ein Schaufenster mit Kochbüchern gestalte, besorge ich mir Dekomaterial beim Wein- und Feinkosthändler nebenan und mache gleichzeitig Werbung für ihn. So hole ich immer wieder mal andere Geschäftsleute ins Boot – wie den Optiker auf der gegenüberliegenden Straßenseite, mit dem ich schon seit der Eröffnung kooperiere. Seither können die Kunden bei uns Lesebrillen ausleihen und kaufen.

Abends und an Wochenenden sind Stadtzentren oft ausgestorben. Sind längere ֔ffnungszeiten ein Rezept gegen sterbende Innenstädte?

Onlineshoppen ist an sieben Tage der Woche rund um die Uhr möglich. Warum wird dem stationären Handel vorgeschrieben, wann eingekauft werden darf? Die Politik entmündigt uns an dieser Stelle. Zwar machen wir auch bisher nicht bei allen verkaufsoffenen Sonntagen mit, aber wir wollen selbst entscheiden. In der Vorweihnachtszeit sind wir dabei, und natürlich zahle ich meinem Team dann einen Sonntagszuschlag, auch wenn wir im Gegensatz zu anderen Branchen nicht die Möglichkeit haben, unsere Ware teurer zu machen.

Sie spielen auf die Buchpreisbindung an?

Das Buch ist eine besondere Ware. Wir können nicht an der Rabattschraube drehen, wie es die Filialisten versuchen. Wenn Filialisten die Verlage und Großhändler so unter Druck setzen, dass sie in Schieflage geraten, ist die Vielfalt und damit die Buchpreisbindung gefährdet. Ich habe noch die Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert im Ohr, der die Branche auf der Hauptversammlung šŒ2006 ermahnte, sich an Regeln zu halten. Denn wenn die Filialisten zu gierig sind und die Buchpreisbindung fällt, können wir uns selbst beim Sterben zusehen. Innerhalb eines Vierteljahres sind die kleinen Buchhandlungen pleite, und die kleinen Verlage folgen nach einem halben bis einem Jahr. Es droht uns dann das Szenario, das Amazon Anfang der šŒŒŒ2000er Jahre mit den CD-Läden vorgeführt hat. Lammert sagte wörtlich: „Nehmen Sie bitte dieses Thema, das Buch als Kulturgut mindestens so ernst, wie Sie es von der Politik erwarten. Die Buchpreisbindung ist nicht von der Politik bedroht, sondern von der Branche. Und wenn sie nicht Bestand haben sollte, suchen Sie die Ursachen in den eigenen Reihen.“

Die Fragen stellte Margit Lesemann

Kommentare (2)
  1. „Entstehen zu viele Shisha-Bars, hat man zwar auch viele kleine Läden, aber das Publikum verändert sich. Und schon funktioniert das ganze System nicht mehr.“

    Wirklich? Shisha-Bar Besucher:innen sind also automatisch keine Leser:innen oder Nutzer:innen des Einzelhandels und machen so das System kaputt? Tiefer konnte hier wohl nicht in die rassistische Klischee-Kiste gegriffen werden, oder?!

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