Eine neue deutsche Erzählerin macht unsere Vergangenheit hautnah lebendig und deutsche Gegenwartsliteratur überraschend aktuell
Stay Away from Gretchen ist eine eine Debüt-Sensation! Susanne Abels Roman fesselt so ungemein, auf eine solch schriftstellerisch perfekte, überzeugende Weise, dass ihn allein das schon empfehlenswert machen würde.
Für ihn spricht aber noch einiges mehr. Er stellt nämlich ein deutsches Frauenschicksal dar – eine Lebenslinie von fast neun Jahrzehnten von einer beeindruckenden Authentizität, die nur aus unmittelbaren persönlichen Beobachtungen, Erfahrungen und Erinnerungen rühren kann.
Ihr Roman erzählt zudem – repräsentativ – die Geschichte einer deutschen Flüchtlingsfamilie, die sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in höllischer Angst vor den Sowjetsoldaten und mit schrecklichen Erlebnissen unterwegs aus Ostpreußen bis ins Heidelberg unter amerikanischer Besatzung durchschlägt. Und der Roman macht die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte wieder lebendig – mit einer Anschaulichkeit, mit einer Genauigkeit, mit Einzelheiten und in Zusammenhängen, wie es nur einer erfahrenen Dokumentarfilmerin möglich ist. An dieser Stelle muss nun etwas zur Autorin des Romans gesagt werden.
Susanne Abel, die in einem kleinen badischen Dorf nahe der französischen Grenze geboren wurde und heute in Köln wohnt, die als Erzieherin und als Puppenspielerin ausgebildet wurde und dann an der Deutschen Film- und Fernseh-Akademie in Berlin studierte, mag hier ja als Romanschriftstellerin debütiert haben. Susanne Abel ist jedoch als Autorin und Regisseurin zahlreicher Dokumentarfilme hervorgetreten. Sie hat längst unter Beweis gestellt, wie professionell und präzise sie komplizierte soziale Gewebe und Verflechtungen in mühevoller Recherche-Arbeit freizulegen vermag und mit welch einer dramaturgischen Kunstfertigkeit sie gesellschaftliche Tatsachen und aktuelle Probleme mit verhangenen Hintergründen und verschütteten Tiefenschichten anschaulich und so abgründig wie unterhaltsam zu gestalten weiß.
Sie hat den Roman um ein bislang nur selten literarisch verarbeitetes Thema angelegt – um die „black babies“. So wurden die Kinder – ihre Zahl wird offiziell mit mehr als fünftausend beziffert – (meist junger) deutscher Frauen mit farbigen Gis bezeichnet. Sie stellten ein politisches sowie soziales Problem der Nachkriegszeit dar. Die US- Militärbehörden verboten den GIs eine Verbindung mit deutschen Mädchen „ aus pragmatischen Gründen:“ Bei ihrer Rückkehr vom Wehrdienst, so lautete die Warnung- würden sie – mit einer weißen Frau und Mischlingskindern – daheim Schwierigkeiten und Unruhe verursachen. In Deutschland wurden solche Frauen von der Bevölkerung als „Negernutten“ und die Kinder als „Mischlinge“ diskriminiert. Vom Ausmaß dieser Formen von damaligem Rassismus hat man heutzutage kaum eine Vorstellung. Susanne Abel bringt sie uns – wiederum ein großes Verdienst – hier greifbar nah; mit ihrer auf Fakten basierenden, dramatischen Erzählung von einer solch „unmöglichen“ Liebe.
Sie hat, wie es in der Wirklichkeit jener Zeit häufig vorkam, ein trauriges Ende. Das US-Militär verordnete dem GI einfach, über Nacht, so dass es incommunicado blieb, eine Zwangsversetzung in eine fernab gelegene Übersee-Kaserne. Und die weiße deutsche Frau verlor außer ihrem geliebten Mann obendrein, sofern bereits auf die Welt gekommen oder nach bevorstehender Geburt, in Tausenden von Fällen auch noch das Kind. Ihr wurde, als zurückgebliebener Alleinstehender anderer Nationalität, kein Sorgerecht zugestanden, der Nachwuchs genommen und per anonymer Zwangsadoption ins Ausland vergeben (oder in ein Heim gesteckt), ohne dass ihr ein mütterliches Recht blieb, dem Verbleib ihrer :Leibesfrucht nachzuforschen. So wie es auch der jungen Greta ergeht, der weiblichen Hauptfigur des Romans, die zur Zeit der gegenwärtigen Handlungsebene des Romans 84 Jahre alt ist.
Das wäre schon schlimm und für die Leserin oder den Leser ergreifend genug. Es kommt aber noch ärger, wie sich herausstellt, als ihr Sohn – aus nachmaliger Verbindung mit einem weißen Deutschen – sich aus schlechtem Gewissen um die Mutter zu kümmern beginnt, der er sich vorher nie verbunden gefühlt hat. Sie leidet nämlich unter Demenz. Dabei kommen dunkle Vorfälle aus verdrängter Vergangenheit zum Vorschein, die ihn das Leben der Mutter und seine eigene schwierige Kindheit und Jugend in neuem Licht sehen lassen.
Der Moderator Tom Monderath hat nämlich eine ältere Schwester, von der er nie etwas gehört hat. Sie war ein „black baby“ Und so entwickelt sich dieser Roman am Ende auch noch zur Geschichte eines Traumas – des Traumas, in dem der vielseitig virulente Rassismus der Nachkriegszeit bis heute auf verheerende Weise weiterwirkt. Er wird für uns Leser umso bestürzender, weil Susanne Abel es auch versteht, diese Geschichte so transparent zu erzählen, dass wir uns der Flüchtlings- und Migranten-Schicksale unserer Tage sowie der offenen und im Verborgenen unheilvollen Traumata auf Grund von heimlichem und unheimlichem Rassismus in der Gegenwart bewusst werden.
Gerhard Beckmann schreibt hier regelmäßig über „große Bücher“, für Ihre Gespräche mit Kunden, die auf der Suche sind nach besonderem und relevantem Lesestoff.
Deshalb wollen wir im BuchMarkt und auf buchmarkt.de „große Bücher“ klar und deutlich profilieren. Und die deutschsprachigen Verlage darauf hinzuweisen, dass Bücher in erster Linie ein durch nichts anderes zu ersetzendes Medium zur Kommunikation mit und unter Menschen und Lesern ist, mit denen unsere Verlage darum auch wieder so zu kommunizieren lernen müssen, dass diese Bücher von den Menschen und interessierten Lesern überhaupt gefunden werden können, als Orientierungshilfen für Buchhändlerinnen und Buchhändler, insbesondere denen, die im Ladengeschäft „an der Front“ stehen. Zuletzt schrieb er über Malachy Tallack „Das Tal in der Mitte der Welt“
(Die ausführliche Fassung des obigen Textes erscheint online in der September-Ausgabe von CultureMag).