Immer freitags hier ein Autorengespräch: Heute mit Andrea Hejlskov über ihr Buch Wir hier draußen. Eine Familie zieht in den Wald (erscheint am 18. September 2017 im mairisch Verlag):
Sie haben in Dänemark ein „normales“ Familienleben geführt, waren beide berufstätig. Warum wurde dieses Leben für Sie unlebbar?
Andrea Hejlskov: Da gab es vor allem zwei Dinge.
1. Ich arbeitete damals als Kinderpsychologin bei der Gemeinde. In meinem Versuch, Kindern zu helfen, wurde mir immer bewusster, dass viele ihrer vermeintlich individuellen Probleme eigentlich eher in unserer Kultur begründet waren. Ich hatte immer das Gefühl, ihnen nie wirklich helfen zu können – und das hat mir das Herz gebrochen. Es war auch ein sehr anstrengender Job: Ich war immer in Eile und hatte dennoch nie genug Zeit und auch nie genug Geld. Ich hatte immer das Gefühl, allem nur hinterherzurennen, nie war es genug.
Doch im Grunde war nicht der Stress das Problem, es lag viel tiefer: Als ich jung war, wollte ich etwas verändern in der Welt, ich wollte, dass mein Leben Bedeutung haben sollte – doch irgendwie war ich unbemerkt und ungewollt ein Teil der allgemeinen Maschinerie geworden. Mein Leben war mir einfach passiert. Ich hatte mir das alles so nie bewusst ausgesucht. Als mein Mann Jeppe dann eines Tages sagt: „Was wäre, wenn es gar nicht an uns liegt? Wenn mit uns gar nichts falsch ist? Wenn es in Wahrheit das ganze Umfeld ist, unsere Kultur, die Struktur? Vielleicht sind wir ja einfach gute Menschen? Vielleicht ist alles gar nicht unsere Schuld?“ Diese Frage hat bei uns alles auf den Kopf gestellt. Und auf eine bestimme Art und Weise hat sie uns auch befreit, hat uns erlaubt, ganz neu zu denken.
2. Familie war mir immer sehr wichtig. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass wir eine richtige „Kernfamilie“ sind, wir kamen uns eher vor wie Satelliten. Ich kannte meine Kinder nicht so gut, wie ich das gerne gehabt hätte. Mir wurde bewusst, dass meine größeren Kinder schon bald ausziehen würden und ich fragte mich, ob ich wirklich mein Bestes gegeben hatte, ob ich die Art von Mutter gewesen war, die ich sein wollte oder ob ich nur die Werte und Regeln der Gesellschaft befolgt hatte. Es war eine sehr problematische Zeit für mich, sie warf einige schwierige Fragen auf. Die Antwort war: Nein, ich war nicht die Mutter gewesen, die ich mir vorgestellt hatte. Und nein, ich hatte nichts bewegt in der Welt. Ich arbeitete so hart – und hatte dennoch das Gefühl, dass das alles nichts bedeutete. Es war also eine richtige Existenzkrise.
Sie sind Teil einer Bewegung, die sich „Human Rewilding“ nennt. Worum geht es?
Unsere Gesellschaft hat nicht nur den größten Teil des Planeten erobert, sondern auch den größten Teil unseres menschlichen Emotionslebens. In unserer Kultur gibt es nicht mehr viel „Wildes“, das noch toleriert wird. Wut, Ekstase, Tränen, unkontrollierbare Emotionen – wir versuchen immer alles zu kontrollieren, alles vorherzusagen, zu managen. Aber die Natur ist doch wild, das Leben ist wild, und beim rewilding geht es darum, sich mit diesen grundlegend menschlichen Emotionen wieder zu verknüpfen.
Es geht bei diesem Lebensstil also darum, einen Raum zu bieten für alles Nichtkonforme, es nicht zu kontrollieren, zu managen, auszubeuten, sondern seine Existenz einfach zuzulassen. In dieser Hinsicht kann man etwa Stress auch mit einer Monokultur in der Landwirtschaft vergleichen – dort werden die Felder auch unter Stress gesetzt, sie werden mit Chemikalien behandelt in dem Versuch, ihnen immer mehr und mehr und mehr abzuringen. Das gleiche machen wir mit unserem Verstand: Wir erwarten von uns Unmögliches (eine Frau muss etwa eine gute Mutter sein, Karriere machen, einen schönen Körper haben, produktiv sein, hübsch, gut organisiert und so weiter).
Und auch bei uns setzen wir Chemikalien ein, um unsere Produktivität zu steigern, immer mehr und mehr performen zu können. Beim rewilding geht es darum, wieder zu einer natürlicheren Sichtweise zurückzufinden. Den Kindern erlauben, im Dreck zu spielen und auf Bäume zu klettern, auch wenn es gefährlich ist. Es geht darum, nackt im Regen zu tanzen und sich nicht um Äußerlichkeiten zu kümmern. Und es geht darum, am Feuer zu sitzen und Zeit zu schaffen für die Art von Konversation, die sich nur entfalten kann, wenn man eben Zeit hat.
Sie leben inzwischen nicht mehr in dem ursprüngliche Holzhaus, um das es im Buch geht, aber noch immer im Wald. Wie sieht Ihr Leben da jetzt aus?
Wir haben sechs Jahre in der Wildnis gelebt, haben zwei Holzhütten gebaut und dabei viel dazu gelernt. Wir haben unseren Traum quasi immer mehr verfeinert und wurden uns mehr und mehr bewusst, welche Bedürfnisse und Wünsche wir wirklich hatten (im Gegensatz zu dem, was wir uns vorher nur vorgestellt hatten). Aber nach sechs Jahren entschieden wir uns, in einen Wald weiter südlich zu ziehen, näher an unsere Heimat Dänemark heran, wo das Klima milder ist.
Ein Grund für den Umzug war auch, dass dieser Selbstversorger-Lebensstil hier leichter umzusetzen ist, Essen zu sammeln und so weiter. Aber wir leben immer noch off the grid (also ohne Stromanschluss oder fließendes Wasser, allerdings haben wir Solarzellen). Wir haben kein Bad, keinen Kühlschrank oder andere moderne Geräte. Unser Wasser kommt aus einem Brunnen, es steht immer noch in einem Eimer auf dem Küchentisch, unser Essen kochen wir auf dem Holzofen, wir haben eine Komposttoilette und das Essen lagert im Lagerraum. Der Lebensstil ist also derselbe geblieben – aber wir sind umgezogen. Weil wir, indem wir uns selbst und unsere Grenzen ausgetestet haben, gemerkt haben, dass wir 1. ein freundlicheres Klima brauchten, 2. für unsere älteren Kinder, die inzwischen ausgezogen sind, erreichbar sein wollten, wir wollten einfach, dass sie uns besuchen können und 3. weil wir am alten Ort unglaublich viel Besuch von Menschen bekommen haben, die unser Buch gelesen haben und so leben wollten wie wir. Manche von ihnen haben sich sogar in unserem Wald angesiedelt, aber wir hatten keine Lust, zu einer Art Anführer oder Gurus zu werden – wir wollen einfach in Ruhe dieses Leben führen und darüber dann sprechen, wenn wir es wollen.
Natürlich ist unser Leben jetzt etwas luxuriöser geworden, wir haben ein größeres Haus (das wir auch nicht selbst gebaut haben, sondern lediglich ein altes Haus wiederhergestellt), es liegt näher an der Zivilisation und dank des milderen Klimas fühlt sich hier vieles einfacher an. Immerhin leben wir nicht mehr in einem Tipi im Regen. Aber die Lebensweise ist genau wie zuvor. Und wir wollen daran auch nichts ändern. Das haben wir uns bewusst so ausgesucht. Wir haben keine normalen Jobs, kein normales Einkommen, wir haben kein Geld oder besonders viel Besitz (man könnte sagen, wir haben ihn auf das Notwendigste reduziert), aber wir haben jede Menge Zeit und unsere Freiheit. Das würden wir nie wieder eintauschen wollen.
Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Familie, Natur, Zeit, Konsum durch das Leben im Wald verändert?
Wir sind humorvoller und emotionaler geworden. Emotionen sind hier jederzeit erlaubt, denn wir müssen uns nicht an Arbeitspläne oder Produktivitätsvorgaben halten. Und lustiger ist es, weil wir fast alles auf eine langsame, anstrengende und dämliche Weise machten, als wir anfingen. Das ging nicht anders. Wir mussten herumexperimentieren und alles versuchen. Wir haben soooo viele Sachen so unglaublich falsch gemacht, und dabei so unendlich viel gelernt. Aber es war eben auch sehr anstrengend, wir mussten ja alles selbst ausprobieren, da uns niemand gesagt hat, was wir tun sollten und wie.
Ich glaube, wir sind also auch viel besser im Lösen von Problemen geworden. Wenn was Blödes passiert, kriegen wir es wieder hin. Wir sind jetzt die, die die Dinge wieder hinkriegen. Wir denken darüber auch nicht lange nach – wenn was kaputt ist, reparieren wir es oder leben ohne es. Wir sind sehr pragmatisch geworden. Ich glaube, am Anfang waren wir noch sehr romantisch, wir hatten all diese Träume und Vorstellungen, wie es wohl sein würde, in der Wildnis zu leben. Inzwischen sind wir da viel pragmatischer. Ich bin nicht hier, um irgendwelche Fantasien von einem authentischen Leben zu erfüllen. Ich bin hier, weil ich frei über meine Zeit bestimmen möchte und über meine Emotionen, über mein Leben. Ich will roh und wild sein, genau wie die Natur.
Wir sind jetzt die, die die Dinge wieder hinkriegen.
In der vergangenen Woche sprachen wir mit Kathrin Lange zu ihrem Roman „Die Fabelmacht-Chroniken. Flammende Zeichen“ (Arena)