Es gibt schon wieder einen Amazon-Skandal. Und diesmal handelt es sich – klipp und klar – um einen elementaren politischen Skandal.
Der multinationale High Tech-Konzern aus Seattle verletzt nämlich die demokratischen Regeln unseres Rechtsstaates. Amazon bricht – konkret, regulär, skrupellos und systematisch – kodifiziertes deutsches Recht. Der US-Gigant verstößt dabei sowohl den genauen Wortlaut wie den Kern- und Sinngehalt eines klugen, kulturell und ökonomisch ausgewogenen bundesrepublikanischen Gesetzes. Darum muss nun der Staat juristisch und politisch gegen Amazon tätig werden.
Amazon demontiert das Gesetz, das den Buchmarkt in Deutschland weltweit bis heute in seiner wirtschaftlichen wie kulturellen Qualität einzigartig und als Bildungsfaktor für die Bevölkerung unersetzbar macht: Amazon macht dieses Gesetz auf Dauer grundsätzlich unhaltbar.
Der Skandal betrifft das das Buchpreisbindungsgesetz. Es ist im September 2002 vom deutschen Bundestag beschlossen worden. Es verpflichtet die Verlage, für den Verkauf von Neuerscheinungen an Endabnehmer verbindliche Preise festzusetzen, so dass für gedruckte Bücher sowie (seit 2019) auch für E-Books überall derselbe Preis gilt, ganz gleich, ob der Kauf eines Buches über eine unabhängige kleine Sortimentsbuchhandlung, ein Buchkaufhaus oder über Internet läuft.
Das ist der erste Kernpunkt des Buchpreisbindungsgesetzes: Er definiert über den festen Ladenpreis das Verhältnis der Verlage nach außen hin, gegenüber der Öffentlichkeit. Dieser erste Teil (in § 6) dient insbesondere dem „Schutz des Kulturgutes Buch“. Er wird im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels von den Preisbindungstreuhändern – Rechtsanwalt Dieter Wallenfels und Professor Dr. Christian Rust – überwacht und ist offensichtlich flächendeckend gewährleistet. Diese – erste – gesetzliche Vorschrift wird auch von Amazon respektiert. Ihre Befolgung liegt allerdings -notabene- völlig im Rahmen eines rein geschäftlichen Eigeninteresses von Amazon.
Das Buchpreisbindungsgesetz enthält jedoch – der Öffentlichkeit weithin unbekannt – in § 6 ebenso klare Vorschriften für (die jeweils vorausgegangenen ) Verkäufe innerhalb der Buchbranche, d.h. zwischen den herstellenden Verlagen und den Handelsunternehmen. Die betreffenden Vorschriften besagen: (1) Die Verlage haben neben und unabhängig von Größe und Umsatzhöhe auch den buchhändlerischen Beitrag und Service kleinerer Sortimente zur flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung mit Büchern angemessen zu berücksichtigen. (2) Verlage dürfen branchenfremde Händler nicht zu niedrigeren Preisen oder Bedingungen als den Buchhandel beliefern, und ( 3): Für die Zwischenbuchhändler (inklusive der sogenannten Barsortimente ) dürfen Verlage keine höheren Preise oder schlechtere Konditionen festsetzen als für Letztverkäufer, die sie beliefern.
Es sind unabdingbare Vorschriften. Weil die Zielsetzung des Buchpreisbindungsgesetzes nämlich nur realisierbar ist, insofern sie befolgt werden. Denn bei diesem Gesetz geht es um folgendes: Es „dient dem Schutz des Kulturgutes Buch, indem es “den Erhalt eines breiten Buchangebotes“ sichert. Es gewährleistet zugleich, dass dieses Angebot einer breiten Öffentlichkeit zugänglich ist, indem es die Existenz einer großen Zahl von Verkaufsstellen sichert.“ Möglich wird all das insbesondere dank der deutschen Barsortimente mit ihrem global einmaligen Service. Er garantiert, dass Bürger auch in abgelegenen Kleinstädten jedes spontan gewünschte Buch zum (überall) gleichen Preis so prompt und schnell erhält wie beim hauptstädtischen Großfilialisten oder über Internet. Zu diesem Zweck ist gesetzlich verfügt worden, dass Verlage keine „Letztverkäufer“ zu höheren Preisen und schlechteren Einkaufskonditionen bzw. Rabatten beliefern dürfen als Unternehmen dieses Zwischenbuchhandels – das gilt beispielsweise für Großfilialketten und die Rackjobber von Supermärkten.
Das letztgenannte Detail an gesetzlichen Vorschriften innerhalb der Branche gilt selbstverständlich auch für Amazon. Es bedeutet – zur Veranschaulichung – konkret: Amazon hätte sich – ausgehend von der Faustregel, dass die Verlage den Zwischenbuchhandel mit einem Rabatt von fünfzig (50) Prozent für Belletristik, Ratgeber und Sachbücher beliefern – per Gesetz mit einer Konditionen-Decke von maximal 50 (fünfzig) Prozent zu begnügen.
Diese gesetzliche Vorschrift für den Binnenmarkt der Branche wird von Amazon aber grundsätzlich gebrochen und systematisch hintergangen. Und diese – in der Buchbranche und der Öffentlichkeit verborgen gebliebene Tatsache – ist nun aufgedeckt worden. Darum legt diese Aufdeckung einen Skandal von besonderer, fundamentaler Tragweite offen: Sie macht Zahlenhintergründe konkret sichtbar, die offiziell nicht mehr für tabu deklariert werden können.
Der Skandal enthüllt nämlich, dass Amazon für den von ihm selbst bestimmten, d. h. vorgegebenen, „vor-programmierten“ Leistungskatalog bei vielen und mittleren Publikumsverlagen einen Grund- bzw. „Klar“-Rabatt von 55 (!) Prozent fordert und auch erhält – zuzüglich der portofreien Lieferung an alle 25 Auslieferungsorte Amazons (darunter je eins im fernen Ausland von Polen und Tschechien (!!). Die Zusatzkosten solch portofreier Lieferungen sind für Verlage mit etwa drei Prozent (!!!) zu veranschlagen. Somit summieren sich die von Amazon verlangten und von Verlagen gewährten Konditionen gesamthaft auf annähernd 60 (!!!!) Prozent – auf ein Konditionen-Aggregat also, das den Rabattsatz für den Zwischenbuchhandel um rund zehn (!!!!!!) übersteigt.
Ist es glaubwürdig, dass davon über – wie viele? – Jahre niemand gewusst hat? Oder könnte es vielleicht eine Mauer des Schweigens gegeben haben, hinter der Verlage – wie lange schon? – ihr Wissen vom Gesetzesbruch Amazons bis heute verheimlichen? Sollte selbst im Börsenverein des deutschen Buchhandels, der ja von Amts wegen über die Einhaltung des Buchpreisbindungsgesetzes zu wachen hat, keinerlei Verdacht aufgekommen sein? Hat Amazon nicht nur deshalb skrupellos regulär und systematisch gegen das Buchpreisbindungsgesetz verstoßen können, weil sich über die Großkonzerne hinaus eine Vielzahl von größeren und mittleren Verlagen auf solch illegale Praktiken einließen und Komplizen von Amazon geworden sind? Wäre es denkbar, dass sie ihr Komplizentum bis in die Gremien des Börsenvereins trugen, in denen Preisbindungs-Malpraktiken offen zur Sprache gebracht werden müssten? Hat der Börsenverein gemerkt, dass er mit seinen Möglichkeiten und Kräften überfordert war? Hat der Börsenverein sich mit seinen Problemen offen und ehrlich an die Politik gewandt? Angesichts seiner mangelnden Transparenz richte ich diesen Offenen Brief an Sie, verehrter Herr Präsident des Bundeskartellamts. Denn Amazon hat die politisch gewollte Wirkung des Buchpreisbindungsgesetzes in ihr Gegenteil verkehrt. Es hat es zu einer weiteren Stärkung und Profitabilität seine Marktmacht missbraucht.
Der Offene Brief an Sie, lieber Herr Mundt, ist zudem aus einer Not entstanden, die für Ihr Kartellamt von Belang sein dürfte – aus der Not einiger Branchenteilnehmer, die als Angestellte in ihrer täglichen Berufsarbeit die erwähnten Gesetzesübertretungen von Amazon in Komplizenschaft mit deutschen Verlagen „durchziehen“ müssen und dazu von Amazon und den verlegerischen Komplizen Amazons zu Stillschweigen verpflichtet und folglich dazu „mitverurtelit“ sind, selbst als Komplizen der laufenden Gesetzesbrüche zu fungieren, die – nach ihrer festen – Überzeugung nur zu einem Ende der Buchpreisbindung führen können – mit gravierenden Folgen für die Bevölkerung, für Autorinnen und Autoren, Verlage, Buchhandlungen, für Kultur- und Bildung wie für den Wirtschaftsstandort und den Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland überhaupt. Darum haben sie sich aus Gewissensgründen entschieden, „Whistleblower“ zu werden.
Das Aufdecken von Missständen dank solcher Hinweise seitens demokratisch und rechtsstaatlich verankerter Bürger gehört heute zu den Standardaufgaben eines investigativen Journalismus, dem ich als zugehörig gelte. Ich habe die Hinweise von Whistleblowern geprüft. Sie haben mich überzeugt. Abbilden, dokumentieren darf und kann ich sie inweisernicht, weil Amazon und Komplizen in Verlagen diese Menschen sonst automatisch identifizieren könnte und höchstwahrscheinlich ihrer Existenzgrundlage berauben würde. Sir müssen also mit Recht geschützt werden. Und dass sie mit ihren Hinweisen augenscheinlich nur auf mich zugekommen sind, beruht darauf, dass ich – in der Branchenzeitschrift BuchMarkt und im Online-Magazin CrimeMag bzw. CulturMag immer wieder dezidiert für das selbständige Sortiments eingetreten bin, gerade in offiziellen Organen der Branche marginalisiert wird. So fehlt – was s ich, als einziger, im „BuchMarkt„ thematisiert habe, an einer korrekten statistischen Erfassung der Leistung unabhängiger Buchhändlerinnen und Buchhändler, obwohl sie es waren, die die während der Corona-Pandemie die Versorgung der Bevölkerung mit Büchern aufrecht erhalten haben. Und die unabhängigen Verlage haben vor einem Jahr exklusiv informiert, um den für sie ruinösen Missbrauch des traditionellen Remissionsrechts durch Amazon publik zu machen.
Eine desaströser Verzerrung des Wettbewerbsrechts.
Mit den geschilderten Verletzungen des Pr eisbindungsgesetzes hat Amazon aber auf dem deutschen Buchmarkt einen Schaden verursacht, der ein direktes Einschreiten Ihres Amtes erfordert, lieber Herr Mundt: Damit hat Amazon nämlich auch direkt eine drastische Wettbewerbsverzerrung bewirkt, wie das Gesetz sie hätte verhindern sollen.
Sie hat beispielsweise zu folgenden Resultaten geführt:
(1) Die Durchschnittsrabattierung für selbständige Sortiment liegt inzwischen – konservativ betrachtet – zwanzig (!!!) Prozent unter dem Konditionen-Niveau von Amazon.
(2) Es hat eine Höhe erreicht, die schon für mittlere Verlage mit einem Jahresumsatz von fünf Millionen Euro eigentlich unbezahlbar ist.
(3) Grössere Verlage und große Konzerngruppen machen über Amazon 30 (!) Prozent ihrer Jahresumsätze mit Belletristik-, Ratgeber- und Sachbuchtiteln.
(4) Gerade für marktbeherrschenden Verlage ist Amazon damit zu einem unersetzlichen Vertriebskanal geworden. Damit hat Amazon eine Macht errungen, auf Grund derer er Konditionen zu diktieren vermag.
(5) Verlage, die sich Amazons Diktat verweigern, sind zunehmen der permanenten Gefahr ausgesetzt, interessante Autorinnnen und Autoren an Verlage zu verlieren, die mit Amazon kooperieren.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Gerhard Beckmann
Das Thema Rabattspreizung beschäftigt die Branche und uns als Verband schon seit einigen Jahren. Beobachtungen legen nahe, dass die Vorschriften aus Paragraf 6 des Buchpreisbindungsgesetzes zur Konditionengestaltung zwischen Verlagen und Buchhandlungen nicht überall im Markt eingehalten werden. Vor zwei Jahren sind wir daher das Thema aktiv angegangen. Wir luden Vertreter*innen aller drei Sparten zu einem Runden Tisch ein, schufen eine unabhängige Ombudsstelle und führten zur weiteren Beobachtung der Marktentwicklung eine zweistufige Umfrage durch. Die Ergebnisse haben wir jüngst veröffentlicht – wie auch der Buchmarkt berichtete: https://buchmarkt.de/meldungen/umfrage-zu-konditionen-auf-dem-buchmarkt-wachsendes-bewusstsein-fuer-die-rechtlichen-rahmenbedingungen/
Die Studie belegt, dass sich das Konditionengefüge in die richtige Richtung bewegt. Viele Verlage haben ihre Konditionen im Sinne des Rechtsrahmens angepasst. Die Rabatte für die Barsortimente haben sich erhöht, während die für andere Letztverkäufer teilweise gesunken sind. Die Planungen der Verlage für die nächsten Jahre lassen vermuten, dass diese Entwicklung noch weiter gehen wird.
Die Studie zeigt aber auch, dass wir das Thema Rabattspreizung weiter beobachten müssen. Hierfür werden wir u.a. die Ombudsstelle beibehalten. Darüber hinaus werden wir auf die Mitarbeitenden in den für die Buchpreisbindung zuständigen Bundesministerien zugehen, um diese über die Ergebnisse der Studie zu informieren.
@Börsenverein des Deutschen Buchhandels
Bei allem guten Willen, das von Gerhard Beckmann investigativ-journalistisch Aufgedeckte wiegt so schwer, dass wir uns die Frage stellen sollten, ob brancheninterne Mechanismen überhaupt noch greifen können, um eine Buchpreisbindung erhalten zu können. Dreh- und Angelpunkt ist u.a. der besagte Paragraph 6 und wir wissen alle, wem wir die Vermeidung einer Neuregelung bzw. die Vermeidung einer dezidierten Neuauslegung zu verdanken haben.
Die in der erhobenen Studie belegte „richtige“ Richtung des Konditionsgefüges wie auch der Hinweis darauf, die Rabattspreizung weiterhin zu beobachten und die Ombudsstelle beizubehalten, dies alles überzeugt mich nicht davon, dass wir das Problem intern in den Griff bekommen – von der nach wie vor gegebenen und aktuell kaum diskutierten Zahnlosigkeit der Preisbindungstreuhänder ganz zu schweigen.
Besonders für alle unabhängigen Sortimenter und Verlage besteht das Missbehagen nicht unbedingt in zu geringen Rabatten, das ganz große Problem ist eindeutig die Rabattspreizung, die inzwischen zugunsten zumindest eines großen Marktbeteiligten Ausmaße angenommen hat, die dem Geist des Buchpreisbindungsgesetzes komplett zuwiderlaufen.
Wenn wir hier selbst keine Lösung finden, dann muss eben das Bundeskartellamt ran!
Jens Bartsch
Buchhandlung Goltsteinstraße in Köln