Die Übersetzerin Anna Eble über die (Wieder)Entdeckung des flämischen Autors Paul van Ostaijen „Im Kern geht es um den Wunsch: Alles muss sich ändern“

Anna Eble: „Wenn wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen, dann um Anknüpfungspunkte zu finden, die es uns ermöglichen, unseren Blick auf andere Weise durch die Gegenwart schweifen zu lassen und uns zu trauen, Weitsicht zu entwickeln“ (Foto: Susanna Wengeler)

Zum Auftritt der Niederlande und Flanderns als Ehrengäste der Leipziger Buchmesse wird auch das Werk von Paul van Ostaijen in mehreren Ausgaben auf Deutsch zu entdecken sein. Die Übersetzerin Anna Eble ist tief mit dem Projekt rund um einen der wichtigsten niederländischsprachigen Autoren verbunden und gibt im Gespräch mit buchmarkt.de Einblicke in sein Werk und Wirken, ihre Arbeit sowie das Programm auf und abseits der Leipziger Buchmesse.

Allein der Verlag Das Wunderhorn hat drei Titel dieses fast vergessenen Dichters im Frühjahrsprogramm und schreibt über ihn: „Paul van Ostaijen war ein radikaler Künstler, Dichter und Groteskenschreiber. 1896 in Antwerpen geboren, wurde er zum überzeugten Aktivisten für die Emanzipation des flämischen Volkes. Hierdurch zur Flucht nach Berlin gezwungen, lernte er dort Vertreter von Dadaismus und Expressionismus kennen, die sein eigenwilliges Werk beeinflussten. Schließlich kehrte er nach Belgien zurück, eröffnete eine Kunstgalerie und starb 1928 viel zu früh an einem Tuberkulose-Leiden.“

Der Gedichtband Besetzte Stadt erscheint im Original-Layout bei Wunderhorn, ebenso wie Kataklump, ein Sachbuch von Matthijs de Ridder, das auf seiner großen Biographie Paul van Ostaijens beruht. Beide Titel wurden von Anna Eble übersetzt, die auch an den Titeln Die Feste von Angst und Pein (Arco, zusammen mit Magnus Chrapowski) und Das Gefängnis im Himmel (Edition Hibana, zusammen mit Andreas Lampert) mitwirkte. Für die Anthologie Befallene Stadt (Wunderhorn) fungierte Anna Eble neben Matthijs de Ridder und Willem Bongers-Dek als Herausgeberin: Der Band referiert auf Besetzte Stadt und versammelt Beiträge von deutschen, niederländischen, flämischen und österreichischen Künstler:innen,

Paul van Ostaijen ist vermutlich im deutschsprachigen Raum nicht allzu vielen Menschen ein Begriff. Wie haben Sie sein Werk kennengelernt?

Kennengelernt habe ich van Ostaijens Werk im Niederlandistik-Studium in Münster und Amsterdam – als einen der größten Spracherneuerer der niederländischsprachigen Literatur und als Dichter, der auch heute noch Schriftsteller:innen inspiriert. Gelebt hat er von 1896 bis 1928, gelesen wird er bis heute auch viel in Schulen. Ich war damals unter anderem von „Vers 6“ beeindruckt, einem Gedicht aus Die Feste von Angst und Pein, in dem er einen ganz anderen Ton anschlägt als in Besetzte Stadt.

Was hat Sie so fasziniert daran?

„Vers 6“ – und der ganze Band – ist um einiges verletzlicher und persönlicher als Besetzte Stadt, aber im Kern geht es um dasselbe, um den Wunsch, der die Avantgarde im Allgemeinen geprägt hat: Alles muss sich ändern, und die einzige Möglichkeit, diesen vollkommenen Neuanfang zu schaffen, ist ein unbeschriebenes Blatt, ein Reset fern von allem, das sich bislang etabliert hat: „Ich will nackt sein / und beginnen“. Van Ostaijen hat versucht, in seinem Werk alle avantgardistischen Strömungen zu vereinen und zu übersteigen. Dass er mit seinem Unterfangen Schiffbruch leiden würde, war ihm klar, und trotzdem legt er sein gesamtes Seelenleben bloß und setzt seine gesamte schriftstellerische Experimentierkraft ein. Das ist vielleicht tollkühn, aber bewunderswert unerschrocken.

Wie kam es dann dazu, dass Sie als Übersetzerin tätig wurden?

Das Übersetzen ist für mich Teil einer umfassenderen vermittelnden Arbeit, die im Kern darauf abzielt, Literatur an Orte zu bringen, an denen sie (noch) nicht gelesen wird. Ich gebe in den Niederlanden eine Zeitschrift für internationale Literatur heraus, Terras, und ich habe das Europäische Laboratorium mitgegründet, mit dem wir auf die schöpferische Kraft des Lesens aufmerksam machen. Selbst übersetze ich vor allem Poesie. Angefangen habe ich mit Werk von Hans Faverey, Erik Lindner und Frank Keizer, und erste Aufträge kamen von Festivals, Zeitschriften und Anthologien. Auf der Frankfurter Buchmesse 2018 habe ich Christoph Haacker vom Arco Verlag und Magnus Chrapkowski kennengelernt, der als Übersetzer, Lektor und Ideengeber viel mit dem Verlag zu tun hat. Er hatte gerade vorgeschlagen, van Ostaijens Die Feste von Angst und Pein ins Verlagsprogramm aufzunehmen, und sie waren auf der Suche nach einer Lyrikübersetzerin aus dem Niederländischen – voilà! Für diesen Band ist Magnus auch mein Co-Übersetzer.

Kataklump ist ein Teil der umfassenden Paul van Ostaijen-Biographie von Matthijs de Ridder – welcher Teil wurde für die deutsche Ausgabe ausgewählt?

Der Teil über die Zeit, die van Ostaijen in Berlin verbracht hat und die Künstler:innen, die er in Deutschland kennengelernt hat, mit denen er viel zusammengearbeitet hat und mit denen ihn schließlich eine tiefe Freundschaft verband. Er und seine Freund:innen waren fest entschlossen, ein neues großes avantgardistisches Manifest zu lancieren und der Vorherrschaft von „Der Sturm“ ein Ende zu bereiten. Das hat nicht ganz geklappt, sonst würden wir heute eine ganz andere Geschichte vom Expressionismus erzählen. Für Kataklump hat Matthijs diesen Teil der Biographie durch neue Informationen und Quellen ergänzt, zugespitzt unter anderem auf van Ostaijens Freundschaft und den Briefwechsel mit Fritz Stuckenberg und Heinrich Campendonk.

Das Thema lässt sich nach der Leipziger Buchmesse noch weiter vertiefen …

Ja, dazu wird im Mai eine Ausstellung im Haus Coburg in Delmenhorst eröffnet (wo es eine Stuckenberg-Sammlung gibt), die nach drei Monaten weiter ins Museum Penzberg ziehen wird (wo wiederum die größte Campendonk-Sammlung angesiedelt ist). Spannend ist dabei vor allem, dass van Ostaijen ein länderübergreifendes Gespräch initiiert hat, weil er die Künste und das Sprechen über die Künste (er war auch recht aktiv als Kritiker) voranbringen wollte, und weniger, um sein eigenes Werk an den Mann zu bringen. Einen solchen Dialog zwischen Künstler:innen verschiedener Sprachgebiete, um eine Suche nach möglichen neuen Formexperimenten anzustoßen, wollten wir auch mit Befallene Stadt ermöglichen.

Was war Ihre Aufgabe im Herausgeber-Team von Befallene Stadt?

Ich wurde 2021 als Kuratorin zum Projekt dazu geholt, als der Schritt in die deutschsprachige Welt bevorstand. Da war noch gar nicht sicher, ob es auch eine deutschsprachige Anthologie geben würden. Das und vieles andere ist aus der Tournee durch u.a. Deutschland 2022 entstanden. Mit Willem Bongers-Dek und deBuren hatte ich schon einmal zusammengearbeitet, und Matthijs de Ridder wusste davon, dass ich schon eine Weile mit einer Übersetzung von van Ostaijen-Gedichten beschäftigt war. Sie hatten das Projekt 2020 initiiert und als sich zeigte, was für ein Potential es hatte, wurde ihnen schnell klar, dass es auf der Hand lag, um genau wie van Ostaijen damals gen Deutschland zu ziehen und den Dialog hin zu deutschsprachigen Künstler:innen zu öffnen.

Wie sind Sie vorgegangen bei der Zusammenstellung dieses vielstimmigen Werks?

Wir haben Künstler:innen angesprochen, bei denen wir entweder eine bereits bestehende Affinität zu van Ostaijen vermutet haben, die in ihrem Werk schon deutlich auf der Suche nach neuen Formen waren, oder von denen wir dachten, sie könnten und wollten dahingehend sicher noch einen Schritt weitergehen. Dazu gab es lange und schöne Gespräche, auch mit einer vierten Kuratorin, die von dem Festival Explore the North aus Leeuwarden aus noch Vorschläge für friesische Künstler:innen einbrachte. Wir hatten eine wunderbar komplizierte Excel-Tabelle, in der wir nach einem guten Gleichgewicht zwischen jungem Talent, „Mid-Career“-Autor:innen und gefestigten Namen, den Genres (neben Schriftsteller:innen sind auch Musiker:innen, bildende Künstler:innen und Filmermacher:innen beteiligt) und auch sonstiger Diversität gesucht haben. Zusätzlich gab es einen Open Call, um auch anderen die Chance zu geben, sich zu beteiligen – fünf der insgesamt 150 Beiträge haben auf diesem Weg zu uns gefunden.

Wie haben die Angefragten auf die Impulse durch Paul van Ostaijen reagiert?

Für viele der beteiligten Künstler:innen war das Projekt ein ausgezeichneter Ort, sich einmal auszuprobieren, zum Beispiel ein Genre anzugehen, in dem sie sich bislang nicht oder wenig bewegt hatten: Für ein paar Prosaschriftsteller:innen war es zum Beispiel eines der ersten Male, dass sie Poesie publiziert haben. Ulrike Draesner hat die Arbeit an ihrem Beitrag nach Abschluss des Projekts fortgesetzt, ihn genauso dicht und ergreifend wie in der ursprünglichen kurzen Version weitergeführt und schließlich in ihrem Roman Die Verwandelten (Penguin)eingearbeitet.  Die österreichische Autorin Franziska Füchsl hat ihren Text in ihrem vor kurzem erschienenen Band (Die Straßen sind sichtbar, Ritter Verlag) aufgenommen und uns wissen lassen, dass die anderen, späteren Texte darin in dieser Form entstanden sind, weil der Beitrag, mit dem sie auf van Ostaijen reagiert, einen wichtigen Akzent in der Entwicklung ihres Werkes gesetzt hat. Solche Rückmeldungen haben wir von einigen der Beteiligten bekommen.

Haben Sie weitere Beispiele?

Chibi Ichigo, eine Brüsseler Musikerin, hat zusätzlich zu dem Lied, das sie für das Projekt geschrieben hat, später ein weiteres aufgenommen, das sich mit van Ostaijens ikonisch gewordenem „Bumm Paukenschlag!“ ganz klar auf den Dichter bezieht. So funktioniert das Projekt schon, seit es entstanden ist: Irgendwo gärt es weiter, bis plötzlich an erstaunlichen Stellen neue Brötchen gebacken werden. Im Stadtmuseum Berlin lief bis Ende 2022 noch eine Ausstellung zu van Ostaijen, im Rahmen derer die in Berlin lebende ägyptische Künstlerin Hanaa El Degham dazu eingeladen wurde, ein neues Werk zu schaffen. Sie hat den Band Besetzte Stadt eingehend gelesen und gemeinsam mit einem syrischen Freund Teile ins Arabische übersetzt. Er hat den Text eingesprochen und wurde dabei emotional: Die genau beschriebenen Momente in der Stadt, bevor sie besetzt ist (bei van Ostaijen ist das Antwerpen), während der Besetzung und danach haben sie beide sehr berührt. Hanaa sagte dazu: „Für mich klang es, als würde er sprechen, nicht van Ostaijen: Das hier ist jetzt.“

Sofern wir wissen, kannten von den deutschsprachigen Künstler:innen nur Ulf Stolterfoht und Franzobel Paul van Ostaijen schon vor dem Projekt, und in manchen Fällen war das vielleicht gerade ein Zugewinn: So konnten sie unbefangen vom Werk selbst ausgehen, während in der niederländischsprachigen – besonders in der flämischen – Welt die langjährige ausführliche Rezeption eventuell zu einer weniger freien Beschäftigung führen kann. Wir freuen uns sehr darauf, gemeinsam mit den vielen neuen Leser:innen in Dialog zu treten und das Werk und all das Neue, was da noch kommt, an verschiedenen Orten vorzustellen – bei jedem Gespräch kommen neue Perspektiven dazu.

Wie wird das Werk von Paul van Ostaijen auf der Leipziger Buchmesse zu erleben sein?

Im Rahmen des Gastlandauftritts „alles außer flach“ wird es jeden Tag Programm in der Schaubühne Lindenfels in Leipzig geben, wo Matthijs de Ridder und ich schon Anfang Februar zwei Lectures zu Parallelen im Werk von Franz Kafka und Paul van Ostaijen geben durften. Neben einer großen Abendveranstaltung im Ballsaal werden während der Buchmesse täglich Leseateliers angeboten, zu denen Gäste auftreten werden, aber bei denen auch das Publikum herzlich zum Mitsprechen eingeladen ist. Dann gibt es noch eine Ausstellung, ein Treppenkino mit Stummfilmfragmenten aus den 1920ern, eine Lese-Ecke und eine Nachtradio-Session, und auch auf der Messe selbst wird van Ostaijen Thema sein, unter anderem im Rahmen eines Panelgesprächs zum Übersetzen von Klassikern.

Es ist wunderbar, dass die Anthologie Befallene Stadt zeitgleich mit dem Werk von van Ostaijen auf Deutsch erscheint – so wird besonders deutlich, dass wir beim Lesen immer dazu angehalten sind, in einem Werk Haken zu finden, an denen sich Neues aufhängen lässt. Die Künstler:innen haben einerseits das Werk und den Ansatz von Paul van Ostaijen ins Hier und Jetzt geholt und andererseits ihre eigenen künstlerischen Möglichkeiten befragt und erneuert. Wenn wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen, dann um Anknüpfungspunkte zu finden, die es uns ermöglichen, unseren Blick auf andere Weise durch die Gegenwart schweifen zu lassen und uns zu trauen, Weitsicht zu entwickeln. – Kühn wie van Ostaijen.

Die Fragen stellte Susanna Wengeler

  • Weitere Informationen über die Titel von und rund um Paul van Ostaijen sowie über das Veranstaltungsprogramm auf der Leipziger Buchmesse sind zu finden unter https://deburen.eu/befallene-stadt
  • Mehr zum Gastland-Auftritt der Niederlande und Flanderns „alles außer flach“: https://allesausserflach.de/
  • Ein Hörtipp: Der niederländisch-flämische Bücherpodcast Kopje koffie, überall wo es Podcasts gibt
  • Lesen Sie weiter: Im aktuellen BuchMarkt finden Sie mehrere Beiträge rund um die niederländischsprachige Literatur

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