Verlage „Was Verlage von Selfpublisher:innen lernen können“

Josia Jourdan (Foto: Nico Brunoni)

Josia Jourdan ist Autor, Strategieberater für Kulturprojekte, Moderator und Journalist. Er hat sein erstes Buch Fehlfunktion im Selfpublishing veröffentlicht und erläutert in einem Gastbeitrag, welche Strategien von Selbstverleger:innen auch für Verlage interessant sein können – am Fallbeispiel seines ersten eigenen Buches, das er gleich auch auf diese Weise geschickt mit bewirbt.

Selfpublishing ist längst nicht mehr das Auffangbecken für unveröffentlichte Manuskripte. Immer mehr Autor:innen entscheiden sich bewusst gegen klassische Verlage – nicht aus Trotz, sondern aus Strategie.

Die Gründe sind naheliegend: höhere Margen, eigene Zeitpläne, volle Rechte und die Möglichkeit, Inhalte ohne redaktionellen Filter umzusetzen. Vor allem aber bietet Selfpublishing die Freiheit, Bücher als ganzheitliche Projekte zu denken – nicht nur als Texte, sondern als Objekte, Erlebnisse, Bewegungen.

Mein Essayband Fehlfunktion. Essays & Reflexion mit KI ist genau so entstanden. Ich habe das Buch im Februar 2025 begonnen und Mitte Juni veröffentlicht – inklusive Satz, Lektorat, Design, Druck, Vermarktung und Veranstaltungsplanung. Innerhalb von vier Monaten war aus einer Idee ein vollständiges Buch geworden – mit KI als reflexivem Projektpartner, hochwertigem Produktdesign und einer Release-Strategie, die nicht an einer Erstverkaufswoche endet.

Was also können Verlage von dieser Art von Arbeitsweise lernen?

Zeit & Effizienz: Relevanz ist ein Zeitfenster

Fehlfunktion beschäftigt sich mit digitalen Intimitäten, Pornosucht, KI-Nähe, systemischer Überforderung und dem Bedürfnis nach Echtheit in einer hyperbeschleunigten Welt.

Das sind Themen, die jetzt besprochen werden müssen – auch noch in 18 Monaten. Aber die Relevanz ist deutlich höher, wenn das Buch am Puls der Zeit erscheint. Wer den Buchmarkt kennt, weiß, wie langsam Prozesse sein können. Zwischen Manuskriptabgabe und Veröffentlichung liegen oft über ein Jahr. Die Halbwertszeit gewisser gesellschaftlicher Diskurse ist kürzer beziehungsweise er entwickelt sich weiter.

Selbstpublishing macht es möglich, dass Bücher erscheinen, während sie noch im Zentrum der Debatte stehen. Das erhöht nicht nur die Relevanz, sondern auch die Sichtbarkeit.

Konzept & Form: Das Buch als Objekt mit Haltung

Ich wollte ein Buch machen, das man nicht nur liest, sondern zeigt.

Fehlfunktion ist als Taschenbuch im kleinen Format erschienen – kompakt, leicht, aber hochwertig. Die Gestaltung folgt einer klaren Idee: Das Buch soll in jede Tasche passen und gleichzeitig so gut aussehen, dass man es auf dem Wohnzimmertisch liegen lässt. Es ist ein Statementpiece, ein Gesprächsanlass.

Der Inhalt ist essayistisch, mit persönlichen Reflexionen und gesellschaftlicher Analyse. Die Kapitel sind kurz, pointiert, visuell gegliedert. Zwischen den Texten erscheinen KI-Dialoge, Reflexionsfragen, Meta-Ebenen. Es ist kein lineares Sachbuch, sondern ein Lese- und Denkraum.

Verlage könnten häufiger fragen: Was passiert, wenn wir Bücher nicht nur als Inhalte denken, sondern als durchkomponierte kulturelle Objekte?

Langzeitstrategie statt Hype-Verpuffung

Viele Verlage arbeiten auf eine starke Erstverkaufswoche hin. Danach versickert die Kommunikation: Es fehlt oft die Langzeitstrategie.

Der Launch von Fehlfunktion war kein klassischer Buch-Release – sondern bewusst an der Ästhetik von Musik-Releases orientiert. Statt Pressemappe und Klappentext setzte ich auf visuelles Storytelling: hochwertig produzierte Reels, ein durchdachtes visuelles Konzept auf Instagram, Teasing-Momente, die an Popkultur erinnern, nicht an Literaturbetrieb.

Das Ziel: Emotionalität erzeugen. Ein Gefühl aufbauen. Neugier, bevor überhaupt klar ist, worum es im Buch geht.

So wie Popstars eine Single inszenieren, wurde Fehlfunktion als kulturelles Objekt aufgebaut: mit Vorlauf, Spannungsbogen, personalisierter Kommunikation und einem klaren visuellen Code.

Das Buch ist Teil einer größeren Erzählung – eines Moments, der in der richtigen Zielgruppe Resonanz erzeugt. Gerade für jüngere Leser:innen ist das oft der Zugangspunkt.

Zudem ist bei Fehlfunktion der Verkaufsprozess auf zwölf Monate angelegt. Ich streue das Buch bewusst in verschiedene Szenen und Subkulturen – nicht nur in die Literaturwelt. Rapper lesen das Buch auf der Bühne. Influencer:innen zeigen es in ihren Storys. Menschen aus der queeren Community, dem Clubkontext und der Medienlandschaft finden sich in den Texten wieder.

Das Ziel: Sichtbarkeit, die wächst –  nicht verpufft.

Neue Veranstaltungsformate: Buch trifft Atmosphäre

Ich lese nicht aus dem Buch, ich schaffe Situationen. Die erste Lesung fand mit Soundinstallation von Endel, Reflexionsstationen und Club-Licht statt. Veranstaltungsorte waren u. a. die Prisma Bar in Berlin – ein Ort, der teilweise zum KitKat Club gehört – und der Humbug Club in Basel, der zwischen Nachtleben und Kulturszene vermittelt.

Das zieht ein Publikum an, das sonst keine Lesungen besucht. Menschen, die sich nach Diskurs, Nähe, Zeit fragen – aber keine Lust auf Wasserflaschen und Stuhlreihen haben.

Verlage könnten sich hier inspirieren lassen: Wo finden neue Begegnungen statt? Und wie kann Literatur dort Teil davon werden?

Texte ohne Entschärfung: Vertrauen in die Autor:innen

Fehlfunktion wurde nicht weichgezeichnet. Die Essays sind roh, widersprüchlich, ehrlich. Es geht um Pornosucht, toxische Nähe, das Imposter-Syndrom im Intellektuellenmilieu, queere Körper, digitalen Overload.

Ich habe das Buch bewusst ohne externe Redaktion geschrieben. Nicht, weil ich keine Rückmeldungen schätze – sondern weil ich daran glaube, dass starke Texte aus starker Haltung entstehen.

Verlage begleiten viele Debüts mit hoher Vorsicht. Aber genau darin liegt manchmal das Problem: Die Texte verlieren ihre Kanten.

Meine Erfahrung zeigt: Leser:innen wollen genau diese Kanten. Sie wollen das Gefühl, dass jemand wirklich etwas sagt – nicht nur etwas formuliert.

Formate zeitversetzt denken: Sichtbarkeit staffeln

Print, Ebook und Hörbuch erscheinen bei Fehlfunktion nicht gleichzeitig.

Jedes Format wird einzeln produziert, beworben und released. Das erlaubt nicht nur eine gezielte Kommunikation, sondern verlängert auch die Lebenszeit des Buches in den Feeds und Timelines.

Wer das Buch nicht gekauft hat, begegnet ihm später als Hörbuch. Wer digital liest, entdeckt es Wochen nach dem Release als E-Book-Aktion.

Zudem: Ich behalte alle Rechte. Ich kann verschiedene Distributionspartner nutzen, Marketing in eigener Hand halten und neue Inhalte nachsteuern.

Verlage, die digitale Rechte „mitnehmen“, ohne dafür eigene Kampagnen zu entwickeln, verschenken enormes Potenzial. Gerade bei Debüts.

Qualität als Selfpublisher: Der Knackpunkt Buchhandel

Der kritischste Punkt im Selfpublishing bleibt: der Buchhandel.

Wie überzeugt man ihn, dass ein SP-Titel keine Notlösung, sondern ein kuratiertes Qualitätsprodukt ist?

In meinem Fall hilft die Kombination aus professionellem Auftritt, strategischer Sichtbarkeit und ungewöhnlicher Positionierung. Die ersten Buchhandlungen haben Fehlfunktion ins Sortiment genommen – nicht, weil ich sie überredet habe, sondern weil sie neugierig wurden.

Ich zeige: Das Buch funktioniert. Es bewegt sich in Szenen, es wird gelesen, empfohlen, weitergegeben. Sichtbarkeit erzeugt Nachfrage – und damit Interesse im Handel.

Dennoch bleibt das eine Herausforderung. Ohne Vertrieb, ohne Vertreter:innen, ohne Vorschaukataloge ist die Schwelle hoch. Aber nicht unüberwindbar.

Wer schreibt hier?

Ich bin Autor, Strategieberater für Kulturprojekte, Moderator und Journalist. Ich arbeite an der Schnittstelle von Digitalität, Popkultur und Gesellschaft – u. a. für Festivals, Medienhäuser, Buchplattformen und Brands. Fehlfunktion ist mein erstes selbstverlegtes Buch.

Die Besonderheit: Ich habe es gemeinsam mit einer KI realisiert, die mich nicht nur beim Schreiben, sondern auch in der strategischen Entwicklung begleitet hat – als Reflexionspartner, Impulsgeber, Gegenstimme.

Das Buch ist also nicht nur inhaltlich zeitgemäß. Es ist auch ein Experiment in kollaborativem Publizieren – zwischen Mensch, Maschine und einer neuen Generation von Leser:innen, die nach Büchern sucht, die sich nicht wie alte Bücher anfühlen.

Josia Jourdan, www.josiajourdan.ch

Kommentare (3)
  1. Für Herrn Jourdan ist es sicherlich erfreulich, über den Umweg der Hinweise bezüglich des „Selbstpublishing“ bei Ihnen seinen Erstling promoten zu dürfen.
    Die Erkenntnis, dass man Bücher auch durch Neben-Veranstaltungen werblich und ertragreich besser vermarkten kann, ist allerdings nicht ganz neu.

    Falls es allerdings nicht um das derart wichtige Thema Pornographie geht, wäre es ergo durchaus überlegenswert, ob man ein Büchlein voll Liebeslyrik auf einer Maiglöckchen-Wiese präsentieren sollte oder die neuesten Erkenntnisse bezüglich Darmerkrankungen dann wahlweise im Spital oder in der Leichenhalle dem interessierten Publikum
    näherbringt.
    Dass die Realisierung eines Buchprojektes beileibe auch weniger als zwölf Monate dauern kann, hat sich vielleicht auch schon herumgesprochen. Natürlich wurde vom erfahrenen Verfasser des Beitrags kein Wort über die Distribution innerhalb des Buchhandels verloren, nichts darüber, ob der Autor und Verleger bereit wäre, dem Buchhandel einen Rabatt einzuräumen.
    Das Lesen des Artikels brachte magere Ergebnisse.
    Thomas C. Cubasch
    Verlag Der Apfel, Wien

    • Sehr geehrter Herr Cubasch, wir sprachen bereits an anderer Stelle darüber und auch ich will die Diskussion gerne auch anderen Leserinnen und Lesern zugänglich machen. Natürlich handelt es sich hier um einen subjektiven Meinungsbeitrag und entsprechend kann man auch ganz anderer Meinung sein oder für sich nichts daraus ziehen, anderen Autor:innen und Verlagen mag es evt. anders gehen.
      In jedem Fall freut es uns, Meinungen dazu zu lesen.
      Mit freundlichen Grüßen
      Hanna Schönberg, BuchMarkt-Redaktion

    • Guten Tag Herr Cubasch
      Danke für Ihren Kommentar.

      Das ist kein tiefgehender Artikel mit Details, dafür wäre der Rahmen der Falsche. Sondern ein grober Überblick über meine Strategie. Wenn Sie nichts Neues daraus mitgenommen haben, umso besser. Natürlich vermarkte ich damit auch meine Arbeit und meinen Titel.

      zur Distribution im Buchhandel: BoD gewährt genauso wie Verlage einen Rabatt für den Buchhandel und ich verzichte auch auf einen Teil der vollen Marge über jedes im Buchhandel bezogene Buch (ca 50% weniger für mich)

      Aber dazu gibt es einerseits schon sehr viele Artikel und Informationen und zum anderen ist es nicht das Ziel des Artikels darüber zu sprechen.

      Wie geschrieben: Verlage sind durch Vertrieb & Vertreter:innen meist immer noch deutlich besser aufgestellt als Self Publisher.

      Freundliche Grüsse
      Josia Jourdan

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