Von "Teutscher Gärtner" bis "Hensslers schnelle Nummer" - Jan Wiesemann über die Verlagsgeschichte Gräfe und Unzer-Jubiläum: Die „Ratgeber-Maschine“ wird 300

Am heutigen 20. Juli 2022 feiert das Verlagshaus Gräfe und Unzer sein 300. Jubiläum. Wir haben mit dem verlagsinternen „langjährigen Historiker der GuU-Geschichte“ Jan Wiesemann, Leitung Vertrieb Sortimentsbuchhandel bei Gräfe und Unzer, über die Entwicklung und die Meilensteine des Verlags gesprochen.

Entstanden ist der Verlag letztlich aus einer Buchhandlung – das war damals noch gar kein verbreitetes Konzept. Wie ging es los mit dem „Haus der Bücher“?

Jan Wiesemann (Foto: privat)

Jan Wiesemann: Sortimenter verlegten im 18. Jahrhundert oft selbst Bücher, um sie auf der Leipziger Buchmesse gegen andere Neuerscheinungen eintauschen zu können. Der sächsische Buchhändler Christoph Gottfried Eckart kannte die Handelsbräuche und veröffentlichte 1722 sein erstes Buch „Historische Erkenntnis des Christentums“, das ihm den Messezutritt verschaffte.

Als er im gleichen Jahr nach Königsberg kam, erkannte er die großartigen Marktchancen für ein neuartiges Buchhandelskonzept in der preußischen Residenzstadt. Die alteingesessenen Buchhändler wehrten sich vehement, doch König Friedrich Wilhelm I. erteilte ihm am 20. Juli 1722 das nötige Privileg, denn die Universität bekundete großes Interesse an einem agilen Buchhändler mit überzeugender Geschäftsidee: Eine Büchersendung mit der Postkutsche brauchte Anfang des 18. Jahrhunderts vom Buchhandelszentrum Leipzig nach Königsberg für 660 Kilometer 22 Tage. Die Kunden wollten ihr Buch aber sofort haben.

Aus dieser – bis heute aktuellen – Situation heraus entwickelte Eckart die innovative Idee einer Buchhandlung als „Vorratskammer der nützlichsten und brauchbarsten Bücher.“ Auswahl und Verfügbarkeit wurden zum Grundstein seines Erfolgs.

Mit seinem am 20. Juli 1722 im Kneiphof an der Schmiedebrücke gegründeten Buchladen begann die Geschichte vom „Haus der Bücher“, als das das spätere Unternehmen Gräfe und Unzer in den 1920er bis 1940er Jahren über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurde.

„Das Haus der Bücher“, 1943

Und wann kamen dann eigene Bücher dazu bzw. wann wurde aus der Buchhandlung auch ein Verlag?

„Eigene Bücher“ gab es immer: Allein Eckart brachte zwischen 1722 und 1746 nach einer Auszählung der Messkataloge 87 Titel heraus. Die Notwendigkeit, über Tauschobjekte zu verfügen, führte dazu, dass es bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts bis auf wenige Ausnahmen keine reinen Buchhändler und keine reinen Verleger gab, sondern nur Verleger und Sortimenter in Personalunion. An dieser Tradition hat das Unternehmen über die Jahrhunderte bis zum Verkauf der Buchhandlung 1975 nach dem Neuanfang 1950 in Garmisch-Partenkirchen an Gisela Leismüller festgehalten.

Was waren das für erste Titel? War damals schon der Ratgeber- und Lebenshilfegedanke erkennbar?

In der Tat gibt es „frühe Ratgeber“ und wenn man so will, kann man hier – auch hinsichtlich Ansprache und Didaktik – erste Wurzeln des heutigen Ratgeberverlags erkennen: z.B. das erste Gartenbuch von Heinrich Hessen Teutscher Gärtner (1740 bei Eckert) oder der erste Ratgeber zur Lebenshilfe: Michael Lilienthals Nützlicher Zeitvertreib auf dem Kranken- und Sterbebette (1753 bei Hartung) und schließlich das erste Kochbuch: Preußisches Kochbuch für Frauenzimmer die Hauswesen und Küche mit möglichst geringer Mühe und Kosten selbst verwalten wollen (1805 bei Goebbels & Unzer).

Wie hat sich dann aus dem eigentlichen Buchhandelsunternehmen der spätere Gräfe und Unzer-Verlag entwickelt?

Mit visionärem Einfühlungsvermögen und strategischer Planung baute der aus Wien stammende Kurt Prelinger, den Bernhard Koch nach dem Neuanfang in Bayern 1955 in den Verlag holte und 1961 zu seinem Nachfolger bestimmte, Gräfe und Unzer mit Blick auf die unerschöpflichen Wachstumsfelder im Freizeit- und Hobbybereich konsequent zum Marktführer für Ratgeber und zu einem der erfolgreichsten Publikumsverlage Deutschlands aus.

Als sein Credo könnte man wiederum die ursprüngliche Idee Eckarts von der „Vorratskammer der nützlichsten und brauchbarsten Bücher“, nun aber im übertragenen Sinne für die Ratgeberliteratur bezeichnen. Doch auch Otto Paetschs Leitsatz „Denken vom Kunde her“ galt ihm als Schlüssel für nachhaltigen Geschäftserfolg.

1990 verkaufte Kurt Prelinger Gräfe und Unzer an Thomas Ganske vom Hoffmann und Campe Verlag in Hamburg. Im 275. Jubiläumsjahr 1997 erreichte das Unternehmen erstmals knapp die 100 Mio. DM-Umsatzschwelle. Unter Georg Kessler wurden mit der neuen „GU Markenarchitektur“ die Programmbereiche Kochen, Gesundheit, Garten, Heimtier, Natur und Business in fünf zielgruppenorientierte Erlebnisfelder überführt und mit konkreten Nutzenversprechen hinterlegt.

Heute ist die „Ratgeber-Maschine“ der größte Ratgeberverlag in Deutschland und produziert pro Jahr rund 9 Millionen Bücher, darunter etwa 200 Neuerscheinungen: „Fast jeder hat eines dieser Bücher mit dem gelben Logo in seinem Regal stehen.“

Was waren denn – bezogen auf die Titel/Bücher – die ganz großen Meilensteine?

Erster Meilenstein waren Mitte der sechziger Jahre sicherlich Arne Krügers Kochkarten: unvergleichlich praktische Küchenhilfen, die – trotz anfänglichem Widerstand des Sortiments millionenfach verkauft – den Verlagsumsatz auf 1,4 Millionen Mark wachsen ließen.

1973 kam es zur legendären „Tchibo-Affäre“, bei der innerhalb von 6 Wochen 800.000 Expl. des Titels Kochen heute als Sonderausgabe über die Theken der Tchibo-Filialen verkauft wurden und der Buchhandel auf den Barrikaden stand. 1975 war das Geburtsjahr der heute weltweit erfolgreichsten Kochbuchreihe „Küchenratgeber“ mit einer Gesamtauflage von mittlerweile über 60 Millionen Exemplaren.

Mit Kochvergnügen wie noch nie erschien 1976 erstmals ein großes „Bildkochbuch“, das einer Rezeptsammlung durch genussvolle Fotografie sämtlicher Rezepte eine bislang völlig unbekannte Benutzerfreundlichkeit verlieh.
Mit Die echte italienische Küche gelang dem Verlag 1990 ein weiteres Mal eine verlegerische Innovation auf dem Kochbuchmarkt: Im Vorfeld mitfinanziert durch Lizenzabschlüsse und damit garantierten Abnahmeverpflichtungen im In- und Ausland wurde eine Startauflage von 300.000 Expl. kalkulierbar.

Die Spitzentitel des Jahres 1999 waren Basic cooking, das erste Bilder- und Lesekochbuch für junge Leute und Forever young von Ulrich Strunz, das erste Gesundheitsbuch eines medial bestens vernetzen Erfolgsautoren, das in der Folge thematisch in allen Variationen „durchdekliniert“ wurde.

2007 gelang dies Detlef Pape erneut mit dem Glücksversprechen Schlank im Schlaf, ebenfalls ein Millionen-Seller. Weber’s Grillbibel war seit 2010 der Titel, der sich gegen den natürlichen Lebenszyklus eines Buches Jahr für Jahr sogar besser verkaufte und mittlerweile über 1,5 Millionen Mal über den Ladentisch ging. Vorläufiger Schluss- und Höhepunkt im 299. Gründungsjahr war 2021 das Kochbuch Hensslers Schnelle Nummer, das bereits vor Auslieferung fünf mal nachgedruckt werden musste, um die Vormerker bedienen zu können.

Am 20. Juli ist der eigentliche Jubiläumstermin, haben Sie für diesen Monat etwas Besonderes geplant?

Unsere Kunden können sich auf ein großartiges Jubiläumsprogramm freuen, das die Kernkompetenz des Verlags und seiner Autoren in den Fokus stellt: Mit sechs Titeln bringt GU im Juli eine „Bibliothek des Lebens“ völlig neu konzipierter Bücher zu den angestammten Themenfeldern Kochen, Backen, Gesunde Küche, Gartenpraxis, Kinderentwicklung und Hundeerziehung auf den Markt. Gleich zwölf Titel erscheinen mit den eigens dafür kreierten Jubiläums-Essenzen: Jeden Monat stellt einer unserer Top-Autoren sein spezielles Thema kompakt und fundiert mit neuesten Informationen zusammen.

Unter dem Motto „300 Jahre Lieblingsbücher“ (hier geht’s zum Jubiläumsvideo) werden Handel und Endverbraucher in die große Jubiläumskampagne eingebunden: 300 Jahre – 300 Preise! Wir feiern ein ganzes Jahr lang Geburtstag, jeden Monat werden 25 neue tolle Gewinne verlost. Im Juli feiern wir mit unseren Mitarbeiter*innen, die sind dafür verantwortlich, dass wir überhaupt einen derart großartigen Geburtstag begehen können. Auf der Frankfurter Buchmesse laden wir dann unsere Handelspartner und Autoren*innen zu einem gemeinsamen Fest ein.

Zudem erscheint auch eine dreibändige illustrierte Verlagschronik: Der erste Band berichtet über die Gründerphase und Entstehung von Buchhandlung und Verlag bis hin zum Neuanfang nach 1945. Der zweite Band stellt die Entwicklung zum Markenverlag von 1950 bis 2022 dar und veranschaulicht, wie eine Handelsmarke in der deutschen Buchbranche zur Benchmark wurde. Der dritte Band erscheint ausschließlich digital und beinhaltet eine Bibliographie sämtlicher 11.449 seit 1722 erschienenen Werke, teils mit Verlinkung auf die digitalisierten Ausgaben.

Und wie sehen die Pläne für die nächsten 300 bzw. für die nächsten Jahre aus?

Die aktuellen Rahmenbedingungen hatten wir uns natürlich ganz anders gewünscht und vorgestellt. Aber die Corona-Pandemie hat mit all den schmerzhaften Ausgangs-, Zugangs- und Reisebeschränkungen und den daraus folgenden massiven Umsatzverschiebungen den Strukturwandel befördert.
Seit Februar leidet auch unsere Branche unter den Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, die sich für die Hersteller und Lieferanten in höheren Kosten und die Verbraucher in steigenden Preisen manifestiert, was sich direkt auf die Konsumstimmung auswirkt.

Hier steuern wir vertrieblich mit einem neuen Leistungs- und Konditionenmodell entgegen, das den Direktbezug für den Handel noch deutlich attraktiver macht. Programmatisch werden wir die in den letzten Jahren eingeschlagenen Wege weiterverfolgen und uns sowohl mit der Kernmarke GU als auch dem Portfolio weiterer Produktmarken getreu unserem Purpose agieren: „Wir bereichern das Leben der Menschen“.

Unsere Vision ist, als Verlag der Zukunft alle Aktivitäten konsequent an den Themeninteressen und Konsumbedürfnissen der Endkunden auszurichten und die Struktur des Verlags fit zu machen. Unsere Marken sind Gütesigel für hochqualitative Inhalte. Sie sind Magneten für eine eigene Reichweite und die Bindung erfolgreicher Autoren.

300 Jahre im Zeitrafffer

1722 Die Buchhandlung Gottfried Eckart in Königsberg, Preußen, wird als Vorläufer des Gräfe und Unzer Verlags gegründet.

1787 Übernahme der Kanter’schen Buchhandlung durch Gottlieb Lebrecht Hartung.

1799 Übernahme der Hartung’schen Buchhandlung durch Johann Philipp Göbbels und August Wilhelm Unzer.

1831 August Wilhelm Unzer verkauft das Sortiment an seinen Sohn Otto und an seinen Schwiegersohn, den Hamburger Buchhändler Heinrich E. Gräfe.

1832 Die Buchhandlung firmiert seit dem 1. Januar 1832 unter dem Namen Gräfe und Unzer.

1927 Unter Bernhard Koch Ausbau zum „Haus der Bücher“, der größten Buchhandlung Europas.

1956 Unter Kurt Prelinger Umzug nach München und Ausbau des Unternehmens zum modernen Ratgeber-Verlag.

1972 Zum 250-jährigen Jubiläum erweitert Gräfe und Unzer sein Ratgeber-Programm um die Segmente Gesundheit und Natur.

1997 275 Jahre Gräfe und Unzer: Zum Geburtstag zieht der Verlag in ein modernes Gebäude in München-Haidhausen.

2001 Gräfe und Unzer erwirbt den Buchbereich des Hallwag Verlags. Christian Teubner übergibt seinen Verlag Teubner an Gräfe und Unzer.

2007 Der Verlag gründet einen neuen Verlagsbereich und publiziert ab sofort Autorenbücher unter dem Label „Gräfe und Unzer“. Ende des Jahres startet GU das Kochportal küchengötter.de.

2012 Im Herbst feiert der Verlag „50.000.000 verkaufte GU-Küchenratgeber!“.

2016 Der Reiseführerverlag Travel House Media fusioniert mit dem Gräfe und Unzer Verlag. Die Verlagsgruppe erwirbt das Programm und die Markenrechte des BLV Verlags und erweitert damit sein Portfolio.

2021 Das Verlagshaus Gräfe und Unzer beschäftigt jetzt rund 170 Mitarbeiter, genauso viele wie einst im „Haus der Bücher“.

2022 Der Verlag feiert sein 300-jähriges Bestehen.

Kommentare (0)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert