Die Serie „Aus der Werkstatt der Verlage“ geht heute weiter mit einem Bericht von Jonas von Lenthe, dem Verleger des Berliner Projektes Wirklichkeit Books. Der Verlagsgründer geht hier der speziellen Verlagstradition der Buchstadt Berlin nach, die „jenseits der Konzerne in München oder Frankfurt ihre eigene produktive Dynamik entwickelte“.
Berlin hatte das große Glück, dass der Buchhandel hier auch im Lockdown geöffnet bleiben durfte. Dieser Umstand führte nicht nur dazu, dass unser jüngstes Buch Rejected – ein Bildband im Taschenbuchformat mit allen abgelehnten Entwürfen für die Europaflagge – nun als erster Verlagstitel in die zweite Auflage geht. Auch ersetzte während der letzten Monate das Stöbern in den Antiquariaten oft den Museumsbesuch und ließ mich auf interessante Materialien zur Verlagsgeschichte Berlins stoßen. Denn gerade experimentelle Mikroverlage haben hier eine lange Historie.
Prekäre Projektökonomie und engagierte verlegerische Praxis haben seit dem subkulturellen Umfeld der späten sechziger Jahre in Westberlin Tradition. „Viel zu weit die breiten Boulevards und Alleen, die Gegenwart viel zu schmächtig dafür“ beschrieb ein Besucher 1968 die Atmosphäre in der geteilten Stadt (in: Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie), in dem es sich linke Kleinverlage zur Aufgabe machten, die Nachfrage nach wichtigen Texten der marxistischen Tradition und kritischen Theorie in Form von sogenannten ‚Raubdrucken‘ zu stillen. Denn nach jahrelangem Antimarxismus mangelte es an entsprechenden Materialien im westdeutschen Buchhandel und Bibliothekswesen. Noch heute geistern diese Bücher in Kreuzberger Antiquariaten umher, die weder über ISBN-Nummer noch Impressum verfügen.
Der Niedergang dieser speziellen Schattenwirtschaft hatte eher unheroische Gründe. Raubdrucke wurden out und das Sortiment verlor seine Einzigartigkeit. Ein Zeitzeuge schreibt: „Wirklich gute Handverkäufer, die zwar immer etwas nervös wirkten, deren Kenntnisse über Benjamin und Foucault aber jedes Buchhändlerwissen in den Schatten stellten, wurden abgelöst durch reine Dealer, bei denen sich die Ware Buch am Geschmack der Konsumenten und der Gewinnspanne orientierte.“
Dennoch, die Westberliner ‚Raubdruck‘-Ökonomie muss ein produktiver Kontext gewesen sein, denn sie brachte wichtige Verlage hervor: Merve begann in den frühen 70ern mit der Herausgabe unlizenzierter Texte und sollte in den kommenden Jahrzehnten den deutschsprachigen Theoriediskurs entscheidend prägen, der Orlanda Verlag veröffentlichte 1974 als ersten Verlagstitel einen Raubdruck von Mathilde Vaertings Buch Frauenstaat und Männerstaat und schrieb in den 80er Jahren mit Audre-Lorde-Erstübersetzungen Verlagsgeschichte.
Für Wirklichkeit Books ist insbesondere die selbstorganisierte Arbeit unterschiedlicher Initiativen im wiedervereinten Berlin der 90er Jahre ein wichtiger Bezugspunkt. Der ID-Verlag etwa, dessen Gründer Martin Hoffmann ich oben bereits zitiert habe, verband in seinem Programm Popkultur mit politischem Anliegen. Und die Buchläden b_books und Pro qm – deren Gründer*innen selbstverständlich selbst in unterschiedlichsten Konstellationen publizierten – schätze ich als Leser und nischiger Kleinstverleger für ihr einzigartiges Sortiment. Mit anderen Worten: Die Stadt Berlin blickt auf eine reiche Verlagsgeschichte zurück, die ein solides Fundament für gegenwärtiges Publizieren bildet.
Zuletzt brachten wir das Editorial von Egon Theiner