Alle sechs für den Deutschen Buchpreis 2019 Nominierten waren gestern Abend ins Schauspiel Frankfurt gekommen. Zum zweiten Mal fand im erneut ausverkauften Haus die insgesamt elfte Shortlist-Lesung statt. Veranstalter war das Kulturamt Frankfurt und das Literaturhaus der Stadt in Kooperation mit dem Schauspiel. Partner ist die Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.
Sonja Vandenrath, Leiterin des Fachbereiches Literatur beim Kulturamt, begrüßte die Gäste. „Mit Maike Albath, Christoph Schröder und Anna Engel konnten wir fachkundige Lotsen für die Gespräche mit den Autorinnen und Autoren gewinnen“, bemerkte Vandenrath.
Die Abwesenheit von Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses, den Benno Hennig von Lange an diesem Abend vertrat, begründete er folgendermaßen: „Hauke Hückstädt gehört genau wie Alf Mentzer, der zu vielen Shortlist-Veranstaltungen moderierte, zur diesjährigen Buchpreis-Jury.“
Das erste Gespräch führten Kritikerin Maike Albath und Raphaela Edelbauer über den Debütroman Das flüssige Land, erschienen bei Klett-Cotta. Die Autorin beschäftigt sich mit österreichischer Geschichte und den Bewohnern des Ortes Groß-Einland. Unter dem Ort erstreckt sich ein riesiger Hohlraum.
Auch das Haus ihrer Eltern senke sich langsam ab, merkte Edelbauer an und stellte fest: „Die Menschen passen sich dem schnellen oder langsamen Absenken an.“
Ein Roman fordere zwar langen Atem, biete aber die Möglichkeit, eine größere Zeitspanne zu betrachten. Edelbauer beschrieb die geologischen Gegebenheit des Berges und die Historie Österreichs; „ich wollte dieses verschachtelte Wurzelwerk der Geschichte aufzeigen“, erklärte die Autorin. „In Österreich gibt es auf alles noch einen Schlagobers oben drauf – das ist schon sehr kennzeichnend für unser Land“, bemerkte Edelbauer. Sie habe im übrigen für den Roman einiges geleistet und sich durch diverse Bücher und Filme gearbeitet.
Ihre Protagonistin Ruth will in der Natur Heilung finden, das gelingt jedoch nicht. „Ruth nimmt so viele Medikamente, dass man schon vom Lesen der Arzneimittel benommen wird“, äußerte Albath. „Ja – nehmen Sie die auf keinen Fall!“, warnte Edelbauer das Publikum.
Die zweite Runde bestritten der Kritiker Christoph Schröder und der Autor Norbert Scheuer. Winterbienen, publiziert von C. H. Beck, ist der achte Roman des Schriftstellers aus der Eifel. „Gibt es ein Vorbild für den Protagonisten Egidius Arimond?“, fragte Schröder. „In meinem Eifelort sitzen im Café so Grauköpfe neben mir. Eines Tages brachten sie mir eine Aktentasche mit Notizen eines Imkers. 1944/45 flogen die Bienen aus und die ‚Feindflugzeuge’ an. Das war der Ausgangspunkt für den Roman“, erklärte Scheuer. Alles habe sich dann ergeben und ergänzt – wie in den gesamten Romanen um die Gemeinde Kall. „Ich bin am Ende des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen“, sagte der 1951 Geborene, „der Krieg war in der Eifel noch nicht zu Ende, wie ein Krieg mit 55 Millionen Toten eigentlich nie zu Ende sein kann“.
Es habe in der Eifel während der NS-Zeit tatsächlich aktive Fluchthilfe gegeben. Gegen eine Summe von 200 oder 300 Reichsmark wurden jüdische Menschen über die Grenze gebracht. Auch Egidius Arimond, der unter Epilepsie leidet, macht das – sowohl um Geld für seine Medikamente zu besorgen als auch aus humanistischen Gründen. Scheuer hat sich zudem intensiv mit Bienen beschäftigt: „Gerade im Moment kann man keinen Mist über Bienen erzählen“, sagte er. Bereits früher half er bei seinen Imker-Freunden mit. Drahtlockenwickler eigneten sich in der Tat hervorragend für den Transport von Bienen. „Bienen sind sozial und totalitär zugleich. Aber sie würden nie ein anderes Volk angreifen“, unterstrich der Autor.
Das Buch enthält Zeichnungen, die Scheuer gemeinsam mit seinem Sohn Erasmus entwickelte. Auf den Illustrationen verwandeln sich die Flugzeuge wie in einer Metamorphose zu Bienen.
Mit der 1992 geborenen Miku Sophie Kühmel, der jüngsten Shortlist-Autorin, unterhielt sich Anna Engel von hr2-kultur. Im Mittelpunkt stand das Romandebüt Kintsugi, erschienen bei S. Fischer. Kintsugi ist eine japanische Technik, bei der zerbrochenes Porzellan mit Gold wieder zusammengefügt wird. „Die Technik war nicht der Ausgangspunkt für den Roman, den ich schon begonnen hatte, passte aber als perfekte Metapher dafür, wie man mit Scherben umgehen kann“, erklärte Kühmel. Engel stellte fest, dass es Unterschiede zwischen der Außenwahrnehmung von einem Paar und der eigenen Einschätzung gebe. Die Autorin hatte sich für die vier Personen – das langjährige Paar Reik und Max, den Freund Tonio und dessen Tochter Pega entschieden. So gibt es vier Ich-Erzähler, ähnlich wie in einem Kammerspiel. „Die Figuren sind mir während des Schreibens nahe gekommen, das war nicht immer angenehm. Aber ich konnte meine Neurosen auf vier Personen verteilen“, sagte halb scherzend die Autorin. In Beziehungen wachse man aneinander, miteinander und manchmal auch gegeneinander. Kühmel wünschte sich, dass Menschen „mit Bedachtheit miteinander umgehen“.
„Wer keinen Bugatti hat, kann sich gar nicht vorstellen, wie angenehm Ivo gerade sitzt.“ Diesen ersten Satz des Debütromans Nicht wie ihr von Tonio Schachinger, herausgekommen im Verlag Kremayr & Scheriau Wien, zitierte Christoph Schröder zu Beginn des Gesprächs. „Wieso ist gerade ein Fußballprofi die Hauptfigur?“, fragte er. „Es hat sich viel getan seit 1950, Fußballvereine sind zu Konzernen geworden. Spieler halten sich die Hand vor den Mund, wenn sie miteinander reden – inzwischen sogar in der Kreisliga. Nichts soll nach außen dringen“, antwortete Schachinger. Schröder spielte auf die verschiedenen Sprachebenen im Buch an. „Ich beherrsche mehrere Sprachregister, und wollte die Sprache der Spieler von der literarischen Sprache abgrenzen“, erläuterte der Autor. Dafür habe er viele Interviews gesehen.
Man denke beim Lesen an den Fußballprofi Marko Arnautović, der bei einer Polizeikontrolle in Wien 2012 gesagt haben soll: ‚Ich verdiene so viel, ich kann dein Leben kaufen’, äußerte Schröder. Schachinger antwortete: „Spieler sind Zwängen unterworfen und eigentlich nur ein kleines Rädchen im Getriebe.“
Ivo habe die Welt, in der er lebt, durchschaut, sagte der Autor und fügte hinzu: „Vielleicht hat er da manchmal den Rezensenten etwas voraus.“
Im Buch, fasste Schröder zusammen, gehe es um den scharfen Blick auf die Leistungsgesellschaft mit ihren designten Spieler-Images. „Spielt auch Rassismus eine Rolle?“, fragte der Moderator. „Der Rassismus, dem Fußballer ausgesetzt sind, unterscheidet sich vom Alltagsrassismus. Spieler sollen die Integration schaffen, die der Gesellschaft nicht gelingt. Es tut weh, erst ein Held zu sein, und dann fertig gemacht zu werden“, sagte Schachinger.
„Letzte Frage: Wie fühlt sich ein Platz auf der Shortlist an?“, wollte Schröder wissen. „Das hilft mir halt sehr“, gestand Schachinger.
Mit Vor dem Fest erhielt Saša Stanišić 2014 den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse. Mit Herkunft, erschienen bei Luchterhand, landete der Autor, dem „Wortquerulantentum“ nachgesagt wird, wie Maike Albath bemerkte, auf der diesjährigen Shortlist. Die Idee zum Buch über Heimaten, Sagen, Flucht und Abschied hatte der aus Višegrad stammende Autor, als seine Großmutter von Drachen sprach. „Drachen aus der Legende um den Heiligen Georg umgaben mich schon früh. Mit zunehmender Demenz erzählte meine Großmutter von Drachen und füllte damit ihre Gedächtnislücken auf“, erklärte Stanišić. Für seine Lesung begab er sich ans Stehpult: „Wann hat man schon einmal Gelegenheit, auf so einer Bühne zu stehen“, begründete er den kleinen Ortswechsel und deklamierte mit viel Betonung und gestenreich.
Als Stanišić mit dem Schreiben von Herkunft begann, wurden in Ungarn die Stacheldrahtzäune hochgezogen. „Es gibt unfassbar viele Parallelen zu unserer Flucht 1992 aus Jugoslawien nach Deutschland und der heutigen Situation von Geflüchteten. Das Handeln eines einzelnen Mitarbeiters der Ausländerbehörde, der nicht Dienst nach Vorschrift machte, war ausschlaggeben dafür, dass ich heute hier bin“, erläuterte der Autor.
Den Abend beschlossen Jackie Thomae und Moderatorin Anna Engel mit dem Roman Brüder, publiziert bei Hanser Berlin (und ohne Folie geliefert). Das Cover, erläuterte Thomae, stelle unterschiedliche Hauttöne dar – ein Thema des Buches. In ihrem Roman geht es um die höchst unterschiedlichen Brüder Mick und Gabriel, beide 1970 geboren, beide haben einen Vater, aber verschiedene Mütter. Mick und Gabriel wissen nichts voneinander. „Nach meinem ersten Roman Momente der Klarheit (2014) wollte ich etwas mit Männern machen. Interessiert hat mich, wann es im Leben Wegkreuzungen gibt, an denen man sich entscheiden muss“, erklärte die Autorin ihre Entscheidung für zwei männliche Protagonisten. Sie wollte damit auch vermeiden, auf die Frage nach einer Autobiografie eingehen zu müssen. Allerdings habe sie mit Mick und Gabriel einen weißen und einen schwarzen Elternteil gemeinsam.
„2016, als ich anfing, das Buch zu schreiben, dachte ich, dass sich der Alltagsrassismus langsam ausschleichen würde. Aber das ist leider nicht so“, bedauerte Thomae.
Die Buchhandlung Land in Sicht organisierte den Büchertisch im Schauspiel Frankfurt. Die Nominierten nahmen sich anschließend Zeit, um die Bücher zu signieren.
Die Bilanz: Die Romane von Schachinger, Edelbauer und Scheuer verkauften sich an diesem Shortlist-Abend am besten.
JF