Eva Sichelschmidts erster Roman Die Ruhe weg (Knaus) erschien 2017 – eine tragikomische Aufbruchsgeschichte über eine Frau, die es nochmal wissen will. Nun legt die Autorin mit Bis wieder einer weint (Rowohlt Hundert Augen) einen Roman vor, in dem die Geschichte einer westdeutschen Unternehmerfamilie – und ihres Verfalls – thematisiert wird. An diesem Buch hat sie über sieben Jahre gearbeitet. Anlass für Fragen:
BuchMarkt: Worum geht es in Ihrem Buch?
Eva Sichelschmidt: Bis wieder einer weint ist zunächst ein Panoramafenster auf die alte Bundesrepublik und ihre Bevölkerung. Ein Gesellschaftsroman, eine Familiengeschichte – 30 Jahre BRD, beginnend mit den frühen Sechziger Jahren im Ruhrgebiet. Beschrieben wird der langsame Niedergang der Unternehmerfamilie Rautenberg, und zwar gleich doppelt, zum einen aus der Erzählperspektive und zum anderen in der ersten Person, als Kindheitserinnerungen der jüngsten Tochter. Es ist es aber auch ein Roman über unerfüllte Wünsche, über Liebessehnsüchte und über eine eigentlich zum Scheitern verurteilte Ehe, die aber doch auf ihre ungewöhnliche Art eine Liebesbeziehung ist, was sich in dem Augenblick offenbart, als sie allzu früh durch den Tod der Frau beendet wird. Das ist dann aber noch lange nicht das Ende des Buches.
Was hat Sie bewogen, diesen Roman zu schreiben?
Viele der Menschen, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, unsere Großeltern und Eltern, waren auf eine traurige Weise, auf eine unheimliche Art sprachlos. Die Traumata wurden verdrängt, aber nie vergessen, im Unterbewusstsein arbeiteten die seelischen Verletzungen weiter. Ich wollte diesen verborgenen Spuren nachgehen. Die Sprachlosigkeit hat damals eine große Einsamkeit erzeugt, die quer durch die Generationen ging. Eheleute haben Jahrzehnte miteinander verbracht, ohne sich wirklich kennenzulernen. Ich habe da, durch eigene Erfahrung, ein geradezu detektivisches Faible für den Komplex Familiengeheimnis entwickelt. Mich beschäftigt aber auch die Rolle der Familienväter zu jener Zeit, die eine große Last auf den Schultern trugen, den Auftrag hatten das Land aufzubauen und die ihren Familien ein Leben in Wohlstand ermöglichen wollten. Ein Sparkonto, ein Auto, ein abbezahltes Haus und eine Ehefrau, die nicht arbeiten musste, war das aber wirklich das Glück? Diese Zeit war die Wiege des Konsumverhaltens, wie wir es bis gestern praktiziert haben und das sich vielleicht gerade jetzt durch die Corona-Krise ein Ende hat. Das finde ich sehr interessant. Wenn dem Aufstieg unweigerlich der Fall folgt, nachdem alles wieder von vorn beginnen kann, so gibt es auch nach jeder Krise eine Lösung – das ist für mich ein Trost.
Und Ihre besondere Herausforderung beim Schreiben?
Die zwei Erzählperspektiven waren nicht so leicht zu koordinieren. Mit dem beschreibenden Erzählen sollte das Geschehen vorangetrieben werden. Da gab es aber auch noch die Beobachtungen des Kindes in der Ich-Form. Die kindliche Wahrnehmung deckt Ungereimtheiten und Lügen auf und macht gleichzeitig die Bigotterie des Erwachsenenlebens sichtbar, ohne zu werten. Diese beiden Ebenen thematisch immer wieder passgenau zu verknüpfen, nichts vorwegzunehmen, aber auch keinen der notwendigen Handlungsstränge zu verlieren, das war ein Kraftakt, vielleicht sogar eine Art mathematischer Herausforderung und der Grund dafür, warum ich über sieben Jahre an dem Buch gearbeitet habe.