Verlage Mainzer Buchwissenschaft fragt: Was ist eigentlich aus Enhanced E-Books und Buch-Apps geworden ?

Aktuell zur jetzt startenden Frankfurter Buchmesse haben sich die Mainzer Buchwissenschafts-Studierenden mit einer Erklärung „Für mehr und bessere Enhanced E-Books und Buch-Apps“ zu Wort gemeldet –  als Ergebnis einer Master-Übung im Sommersemester 2022 zum Thema „Technologie und Ästhetik des Buches im digitalen Zeitalter“ von Prof. Dr. Christoph Bläsi. Hier der Wortlaut der Erklärung zur Standort-Bestimmung einer Produktgruppe, die nach Meinung der Studierenden gut in das Portfolio der Verlage passen müsse:

Prof. Dr. Christoph Bläsi

In der Übung „Technologie und Ästhetik des Buches im digitalen Zeitalter“ hat sich eine Studierendengruppe mit (sogenannten) Enhanced E-Books und Buch-Apps auseinander gesetzt, also mit digitalen Büchern, die – als Datei oder als App – außer Text und Bild weitere Medienelemente enthalten wie z.B. Videos, Audios oder auch Simulationen. Der Fokus lag dabei auf (leicht zugänglichen) Produkten – und zwar in dem Sinne, dass diese käuflich erworben werden oder aber (als bewusste Geschäfts-Entscheidung breit gestreut, also nicht nur für einen zufälligen Nischenmarkt) unentgeltlich abgerufen werden können. Was daher in der Übung explizit nicht betrachtet wurde, sind die experimentellen, z.T. auch multimodal gestalteten Werke der so genannten Netzliteratur (vgl. dazu z.B. Rettberg, Scott: Electronic literature. Cambridge, UK; Medford, MA, USA: Polity Press, 2019).

 

Im Folgenden finden Sie unsere Erkenntnisse sowie unsere Vorschläge zur Verbesserung der von uns als unbefriedigend und weit hinter den Möglichkeiten bleibend eingeschätzten Situation, in Richtung  mehr und bessere Enhanced E-Books und Buch-Apps.

Wir haben beobachtet, dass

… es keine klaren Begriffsfassungen für die Produktgruppe bzw. besser die Produktgruppen im Bereich von multimodal erweiterten digitalen Büchern gibt. Die gemessen an unseren Erwartungen erstaunlich wenigen Produkte, die wir v.a. auf dem deutschen Markt (nach z.T. aufwändiger Suche) gefunden haben, sind meist relativ nahe am gedruckten Buch gestaltet – von einer Lust am Experimentieren ist nicht viel zu sehen. Trotzdem sind die Produkte oft nicht intuitiv bedienbar. Außerdem deutet die Tatsache, dass es wirklich schwierig war, diese Produkte überhaupt zu finden, darauf hin, dass zu wenig Marketing-Energie in diese Produkte und das Wecken von Aufmerksamkeit für sie investiert wird.

Als potentielle Gründe für diese Situation können aus unserer Sicht angeführt werden, dass es weder einen spezifizierten Markt noch v.a. offensichtliche und sinnvolle Standards sowie produktive und einfach zu bedienende Tools für die Erstellung gibt – was u.a. zu extrem hohen Erstellungsaufwänden führt, weil das meiste gewissermaßen im Editor „handgeklöppelt” werden muss. Das verhindert bei noch nicht etablierten Produktgruppen mit (zumindest zu Beginn) schwacher Nachfrage attraktive Geschäftsmodelle mit einem Break-Even-Punkt in Sichtweite. Die verschiedenen Teil-Produktgruppen (Enhanced E-Books, Buch-Apps, etc.) ohne übergreifendes, an Kund*innen einfach zu vermittelndes Konzept führen auch – was die Weckung von generischer öffentlicher Aufmerksamkeit, z.B. durch Verbände angeht – zu einer Zersplitterung in viele Initiativen mit geringer Reichweite, manchmal zu Enhanced E-Books, manchmal zu  Buch-Apps und manchmal auch zu – um noch eine verwandte Produktgruppe zu nennen – textbasierten Games.

Dabei ergeben sich aus unserer Sicht für Enhanced E-Books und Buch-Apps doch ganz offensichtlich …

… zahlreiche potentielle Anwendungsgebiete, Vorteile für Nutzer*innen sind unmittelbar erkennbar. Besonders der E-Learning-Bereich ist hierbei hervorzuheben: Schüler*innen können mit angepassten Übungen auf ihrem Niveau abgeholt und gefördert werden – so kann auf das individuelle Lerntempo eingegangen werden, was bei einem gedruckten und dadurch unveränderlichen Schulbuch nicht möglich ist. Wenngleich das Home Schooling, z.B. in Zeiten der Pandemie, nicht die erste Wahl sein kann, könnten multimediale Lehr- und Lernmittel das Interesse an Themen steigern und den Input durch Lehrer*innen über verschiedene Wege ergänzen, beispielsweise durch eingespielte Videos und Audios oder die Möglichkeit, sich unbekannte oder fremdsprachliche Begriffe in Texten bei Bedarf direkt erklären zu lassen. Gleichzeitig eignen die jungen Nutzer*innen sich dadurch eine erweiterte Medienkompetenz an.

Zudem steigen durch multimodale Optionen Zugänglichkeit und Barrierefreiheit für Nutzer*innengruppen mit speziellen Bedürfnisse, beispielsweise mittels Sprachausgabe – und auch die Lesemotivation kann durch sie gezielt gefördert werden: Wenn – in diesem Fall eben: digitale – Bücher Teil des frühen Medienkonsums sind, greifen Kinder vielleicht auch später eher zu (nicht nur digitalen) Büchern und müssen sie nicht erst unter einer Vielfalt von konkurrierenden Medienangeboten entdecken. Aber nicht nur junge Nutzer*innen und Schüler*innen können von solchen Produkten profitieren; in Sachtexten können Fakten mit Ergänzungen und (umfangreichen) Quellen versehen werden, auch hier wieder in verschiedenen medialen Formen und darüber hinaus mit der Möglichkeit von Updates, wenn sich Gegebenheiten oder Sichtweisen ändern.

Aber auch abseits von E-Learning und Sachtexten könnten Enhanced E-Books und Buch-Apps Wirkung entfalten: So kommen z.B. belletristische Titel inzwischen häufig mit eigens zusammengestellten Musik-Playlisten, die die Leser*innen jedoch ergänzend selbst während des Lesens abspielen müssen. Bei einem Enhanced E-Book oder einer Buch-App würde dies automatisch an der entsprechenden Stelle geschehen, was wiederum das Leseerlebnis vertiefen und die Lesefreude steigern kann.

Ganz besonders bieten sich – natürlich nur in einem Maße, das als pädagogisch sinnvoll erachtet wird – bei digitalen Kinder- und Jugendmedienneue Möglichkeiten, Spaß zu haben und die Welt zu erkunden, wenn die Beschränkung auf Texte und Bilder überwunden werden kann.

Der In der Wissenschaft diskutierte Publikationstyp der (so genannten) Executable Papers – eine Form digitaler Publikationen –, bei denen die in der Forschungsarbeit generierten Daten Leser*innen für spezifische Anfragen, Simulationen, etc. zugänglich gemacht werden, hilft, wissenschaftliche Ergebnisse schneller und anschaulicher Eingang finden in öffentliche Diskussion und politisches Handeln.

Und dann kann man die Thematik auch von der anderen Seite her betrachten, denn schließlich bietet die bei Nutzung der genannten Möglichkeiten entstehende Nachfrage für Verlage neue Chancen: Die genannten Produkte haben das Potential, ein neues, zusätzliches Standbein zu bieten – bei zügigem Vorgehen und professioneller Ausführung unter Nutzung der spezifischen Assets und Kompetenzen von Verlagen mit echten Marktchancen auch gegenüber möglichen Produkten aus anderen Branchen wie z.B. der Games-Branche oder von US-Plattformunternehmen.

Um diese Potentiale auch zu realisieren …

  • … , müssten Kreativschaffende neue Ausdrucksformen für Enhanced E-Books und Buch-Apps entwickeln und diese auch für ihre Werke nutzen
  • … , müssten Verlage sich dieser Produktgruppen engagiert annehmen und dabei auch genuin neue, das Buch-Paradigma herausfordernde Lösungen ausprobieren – gerade dafür bietet sich auch die Zusammenarbeit mit Playern aus angrenzenden Branchen (z.B. Games) an
  • … , müsste die Buchbranche mit generischem Marketing, auf Messen und auch auf Webseiten für das Enhanced E-Book und Buch-Apps werben
  • … , müssten Verlagsverbände mit Branchen wie der Gaming- oder Software-Industrie zusammen arbeiten
  • … , müssten Software-Firmen und Plattformen Standards etablieren und Tools anbieten
  • … , müsste die (Fach-)Publizistik Produktvorstellungen aus diesen Produktgruppen und entsprechende Sonderhefte in ihre redaktionellen Programme aufnehmen und z.B. Bestseller- und/oder Besten-Listen veröffentlichen
  • … , müssten Bibliotheken und Schulen als Ansprechpartner zur Verfügung stehen und ggf. auch digitale Endgeräte bereitstellen
  • … , müsste die Bildungspolitik dafür sorgen, dass Medienkompetenz-Konzepte diese Produktgruppen explizit mit bedenken und diese auch in einschlägigen Studiengängen berücksichtigt werden
  • … , müsste die Kulturpolitik Fördermittel zur risikobehafteten Weiterentwicklung dieser Produktgruppen bereitstellen und z.B. entsprechende Wettbewerbe ausrichten

Außerdem kann man sagen, dass diese Produkte nicht zuletzt uns als Buchwissenschaftler*innen natürlich einen überaus anregenden Anlass geben, die Diskussion um die Zukunft dessen, was wir Buch nennen, qualifiziert weiter zu führen.

Mainz, 13. Oktober 2022

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