Der mit 25.000 Euro dotierte Tractatus, der alljährlich vom Verein Philosophicum Lech für herausragende Leistungen im Bereich der philosophischen Essayistik verliehen wird, geht in diesem Jahr an die Autorin Marie Luise Knott, die in ihrem Buch 370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive (Matthes & Seitz Berlin) die Erfahrungs- und Gedankenwelt der Philosophin Hannah Arendt und des Schriftstellers Ralph Ellison in Beziehung setzt und so „neue Perspektiven auf Debatten um Rassismus und Identitätspolitik eröffnet“.
„Wie sich Gesellschaften nachhaltig verändern lassen und wie wir lernen, uns als Gleiche anzuerkennen, ist die Kernfrage, bei der Marie Luise Knott ansetzt“, wird in der Jurybegründung u. a. „die hohe Relevanz und Aktualität des Werks“ gewürdigt. Titelgebend für das im März 2022 im Verlag Matthes & Seitz Berlin erschienene Buch ist, dass die berühmte jüdische Philosophin, die 1941 in die USA flüchten musste, und einer der wichtigsten afroamerikanischen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts nur einen Zahlendreher entfernt in derselben Straße wohnten: Hannah Arendt in der Nähe der Columbia University und Ralph Waldo Ellison weiter nördlich in Harlem. Das die beiden tatsächlich Verbindende als Ausgangspunkt für Knotts ideengeschichtlichen Essay ist eine damalige Debatte, zu der sich ein Brief von Arendt an Ellison als Durchschlag in ihrem Nachlass fand. In diesem leistet sie Abbitte für ihre Unbedachtheit in einem 1959 veröffentlichten Aufsatz, in dem sie zu den Ereignissen in Little Rock im Jahre 1957 Stellung nahm. Damals musste die Nationalgarde einschreiten, als Protestierende höchst aggressiv schwarze Jugendliche am Schulbesuch hindern wollten. Ellisons scharfe Replik auf die Ausführungen Arendts im Jahre 1965 quittierte sie in dem Brief u. a. mit „Sie haben völlig Recht“ und dem Geständnis, dass sie „die Komplexität der Lage nicht verstanden habe“.
Marie Luise Knott lebt als freie Autorin, Herausgeberin, Übersetzerin und Kritikerin in Berlin. 1953 in Köln geboren, war sie zunächst als Verlagslektorin, später als Herausgeberin, literarische Übersetzerin und dann als Zeitungsmacherin tätig: Von 1995 bis 2006 gründete und leitete sie die deutschsprachige LE MONDE diplomatique.
Die feierliche Verleihung des Tractatus 2022 findet am Freitag, den 23. September um 21 Uhr im Rahmen des Philosophicum Lech statt, das sein 25-jähriges Jubiläum begeht. Unter dem Titel „Der Hass. Anatomie eines elementaren Gefühls“ wird sich die Tagung von 20. bis 25.09.2022 einem aktuellen Thema widmen.