Abraham Melzer über die Erinnerungen seines Vaters "Ich habe Neun Leben gelebt“ „Juden lebten in ostjüdischen Städtels freier und sicherer als im Westen Europas“

„Ich habe die Nazis erlebt, die Kommu­nisten überlebt, die Zionisten erduldet und den Sozialisten geholfen.“ So beschreibt der Verleger Joseph Melzer sein beweg­tes Leben. Aber erst fast vierzig Jahre nach seinem Tod erscheint sein Bericht „Ich habe Neun Leben gelebt“ über ein „Jüdisches Leben im 20. Jahrhundert“. Das war Anlass für unser heutiges Autorengespräch mit seinem Sohn Abraham Melzer:
Abraham Melzer: „Mein Vater schildert auch das Leben von Juden in Osteuropa vor dem Ersten Weltkrieg. Viele glauben, dass damals dort Antisemitismus herrschte. Mein Vater beweist aber das Gegenteil. Juden lebten in ostjüdischen Städtels freier und sicherer als im Westen Europas, wo sie sich ständig als Minderheit der Mehrheit unterordnen mussten“

 

Abraham, was hat Dich bewogen, gerade jetzt den Lebensbericht Deines Vaters herauszubringen?

Abraham Melzer: Da mein Vater schon vor fast 40 Jahren gestorben ist, mag es so wirken, als hätte ich erst jetzt das Anlegen, von seinem starken Überlebenswillen und von der grenzenlosen Liebe zum Buch und zum Buchhandel zu erzählen. Aber ich muss voller Scham gestehen, dass ich Ich habe Neun Leben gelebt erst jetzt gelesen habe.
Ist das nicht normal? Als wir uns damals als Lehrlinge im Werner Verlag kennen gelernt haben, hat uns da interessiert, was unsere Väter gemacht oder erlebt haben? Heute bin ich manchmal traurig, dass ich zu wenig gefragt habe.
Als mein Vater starb das ja schon lange nach unserer Lehrzeit. Ich war aber voll im Stress, hatte als kleiner engagierter Verleger jede Menge Sorgen und ständig Angst um die Existenz und habe das Manuskript, das mein Vater mir übergeben hat, in die Schublade gesteckt und mir vorgenommen, irgendwann, wenn ich Zeit haben werde, vielleicht im Urlaub, es zu lesen. Meine einzige Ausrede wäre, dass ich es wegen der Korrekturen und Streichungen, Ergänzungen und Schwärzungen nicht einfach mit querlesen veröffentlichen könnte. Erst jetzt, nachdem ich meinen eigenen Verlag endgültig eingestellt habe und mich dem Übersetzen von Büchern widme, habe ich es gelesen und war überwältigt.
Dann halt jetzt meine Standardfrage: Worum geht es? 
Es geht um das abenteuerliche und von Fremden bestimmte Leben eines Juden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im österreichischen K & K Imperium geboren, in Galizien, am Rande des Kaiserreiches, in einem Städtel, dass zur Hälfte von Juden bewohnt war, erlebte mein Vater eine mehr oder weniger glückliche Kindheit, die durch den Ersten Weltkrieg beendet wurde. Das Kaiserreich zerfiel und Galizien wurde Polen angeschlossen. Mit seiner Familie floh er nach Berlin, wo er seine Jugend verbrachte. Er fand dort seine Liebe zum Buch, wurde Buchhändler und brachte auch eine Zeitschrift heraus, die kaum, dass sie erschien, schon mangels Geldes nicht mehr erscheinen konnte. Das war Anfang der 30. Jahre und da er in seiner Zeitschrift gegen Hitler geschrieben hat und bei den Nazis auf der Liste stand, musste er unmittelbar nach der Machtergreifung der Nazis Deutschland verlassen. Da kein anderes europäisches Land bereit war Juden aufzunehmen floh er nach Palästina und blieb dort bis 1936. In diesem relativ friedlichen Olympia-Jahr verließ er Jerusalem, wo er zusammen mit Shalom Ben-Chorin eine Buchhandlung und Antiquariat betrieb und wagte es nach Berlin zu kommen. Kaum war aber die Olympiade zu Ende, da veränderten die Nazis ihr Gesicht und er musste wieder fliehen. Diesmal auf Umwegen nach Paris, wo er als Buchhändler arbeitete und bis 1939 geblieben ist. Anfangs unter sehr schwierigen Verhältnissen, am Ende ging es ihm aber relativ gut bis auf die Tatsache, dass er in Paris nicht bleiben konnte, weil sein polnischer Pass abgelaufen war. Er fuhr im August 1939 nach Warschau, weil der polnische Botschafter seinen Pass nicht verlängern wollte, und dort erwischte ihn der Zweite Weltkrieg.
Joseph Melzer war der Verleger von Ludwig Börne, aber auch der „Geschichte der O“ (Mehr zum Buch durch Klick auf Cover)

Er floh nach Osten, in der Hoffnung über das Mittelmeer wieder zurück nach Paris zu kommen, aber von Osten kamen die Russen und verhafteten ihn als deutschen Spion, weil sein Pass voll mit deutschen Stempeln war. Nach endlosen Verhören wurde er zu 10 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Die zehn Jahre wurden auf zwei Jahre verkürzt, als 1941 die polnische Armee des General Anders gegründet wurde und sich in Südrussland versammelte. Mein Vater wurde nach Samarkand in Usbekistan verbracht, wo er desertiert ist, weil er nicht vorhatte, für Polen in den Krieg zu ziehen. So gut waren die Polen nicht zu ihm gewesen. Den ersten und letzten Vorteil, den er vom Polnischen Pass hatte, war die Befreiung aus dem Gulag, in dem er als Holzfäller gearbeitet hatte.

Er bliebe zwei Jahre in Samarkand und erlebte dort die Hölle auf Erden. Er lernte meine Mutter kennen und dort wurde ich auch geboren. Kurz nach Kriegsende gelang es ihm und seiner Familie aus Russland, dass damals schon hinter dem Eisernen Vorhang war, zu entfliehen und in einem Lager für Überlebende des Holocaust in Admond, in der Steiermark/Österreich unterzukommen. Dort wurde auch sein zweiter Sohn geboren.
1948 wurde er zusammen mit der Familie nach Palästina verbracht, dass noch am Tag seines Eintreffens in Israel umgewandelt wurde. Er blieb bis 1958 in Haifa, wo er zu seinem geliebten Beruf als Buchhändler zurückgefunden hatte. Das Leben in Israel war aber mühsam und die nationale Politik der Regierung gefiel ihm überhaupt nicht. Bei einer Gelegenheit, die sich ergeben hatte, kehrte er zurück nach Deutschland und nahm seine inzwischen auf drei Kinder gewachsene Familie mit.
Wann hat er denn seinen Verlag gegründet? 
Das war dann 1958 in Köln. Dort begann er mit Judaika-Titeln und machte dann später in Düsseldorf und zuletzt in Darmstadt mit Avantgarde-Literatur und literarischer Erotik im deutschen Buchhandel und in der Öffentlichkeit Furore.
Das war eine spannende Zeit, mit großen Aufregungen  und wir beide mitten drin.
Ja, der Verlag produzierte mit der „Geschichte der O“ damals einen Bestseller und gebar durch die Spaltung den März Verlag, der mit seinen gelben Büchern den Buchhandel in Deutschland aufmischte. Nach der Spaltung hat sich mein Vater zurückgezogen und ich habe den Verlag übernommen. Der Verlag hat, so wie der März Verlag, die Spaltung aber nicht überlebt und musste gleichzeitig mit dem März Verlag Konkurs anmelden.
Im Buch wird die März-Spaltung und die Auseinandersetzumg mit Jörg Schröder ausführlich und mit Insiderwissen beschrieben. Wem sollst würdest Du als Buchhändler solch einen Stoff mit welchem Argument am besten verkaufen?
Das Buch schildert auch das Leben von Juden in Osteuropa vor dem Ersten Weltkrieg. Viele glauben, dass damals dort Antisemitismus herrschte. Mein Vater beweist aber das Gegenteil. Juden lebten in ostjüdischen Städtels freier und sicherer als im Westen Europas, wo sie sich ständig als Minderheit der Mehrheit unterordnen mussten. Diese Welt ist untergegangen und wer darüber etwas erfahren will, soll das Buch lesen.
Das Buch zeigt auch, dass nicht alle Juden gleich sind und politisch gleich marschieren. In Israel und in Palästina der 30er Jahre hat mein Vater den jüdischen Nationalismus kennengelernt und war von diesem ebenso angewidert wie vom Nationalsozialismus der Deutschen. Das Buch ist ein Dokument der Zeitgeschichte und man lernte daraus vieles über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Das Buch zeugt von einem starken Überlebenswillen und von der grenzenlosen Liebe zum Buch und Buchhandel. Eigentlich war mein Vater ein Buchhändler und noch mehr ein leidenschaftlicher Antiquar. Es kam nicht selten vor, dass er einem Interessenten das Kaufen eines Buches ausgeredet hat, weil er sich vom Buch nicht trennen konnte. So ist es auch kein Wunder, dass mein Vater in den letzten Jahren seines Lebens noch einmal ein Antiquariat gegründet hatte, das er am Ende erfolgreich verkaufen konnte.
Ich hoffe, auch wenn es schon  lange her ist und die Generation der heutigen Buchhändler und Verleger sich kaum oder nicht erinnern wird, so ist „Ich habe Neun Leben gelebt“ für jemanden, der in der Buchhandel- und Verlagswelt tätig ist, bestimmt interessant.
Die Fragen stellte Christian von Zittwitz
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