Großer Auftritt für das Tagebuch der Anne Frank gestern Abend in Berlin: Der Wilhelm-von-Humboldt-Saal in der Staatsbibliothek Unter den Linden bot eine würdige Kulisse für die Premiere von Thomas Sparrs neuem Sachbuch „Ich will fortleben auch nach meinem Tod“. Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank (S. Fischer). Im Gespräch mit Achim Bonte, dem Generaldirektor der Staatsbibliothek zu Berlin, machte Sparr neugierig auf sein Buch, das morgen in den Handel kommt.
Die Lebensgeschichte von Anne Frank kennt wohl jeder. Aber welche Geschichte hat das heute weltberühmte Tagebuch des deutsch-jüdischen Mädchens? „Bücher haben ihr Schicksal und eine eigene Biographie“, so Thomas Sparr, Literaturwissenschaftler und Editor-at-Large im Suhrkamp Verlag. 76 Jahre nach der Erstausgabe legt er eine gründlich recherchierte Biographie des Tagebuchs vor, das Anne Frank „mit Begabung und Hingabe“ geführt habe.
Heute wäre Anne Frank 94 Jahre alt. Ihr Tagebuch, ein Poesiealbum mit kariertem Einband, war ein Geschenk zu ihrem 13. Geburtstag. Wenige Wochen später tauchte die Familie in Amsterdam unter und wurde im September 1944 nach Auschwitz deportiert. Annes Vater Otto Frank, der als einziger der Familie den Holocaust überlebte, habe sich zeit seines Lebens dafür eingesetzt, dass das Werk seiner Tochter in aller Welt verbreitet wurde.
Sparr bezeichnete Otto Frank als unbestechlichen Sachwalter mit einem guten Sinn für Public Relations. So habe er Exemplare der ersten Ausgabe sofort bei Erscheinen an Königin Wilhelmina und ihre Tochter Juliana geschickt und auch weltweit das Licht der Öffentlichkeit gesucht. Die niederländische Ausgabe erschien 1947 unter dem Titel Het Achterhuis – ein Titel, den Anne Frank selbst erwogen hatte für das, was sie ihren Roman nannte. Auf Französisch wurde das Buch 1950 veröffentlicht, 1952 in den USA, in Israel und vielen anderen Ländern.
In Deutschland sei es zunächst schwer gewesen, einen Verlag zu finden. Sparr berichtete von peinlichen Absagen. „Der Ruhm des Tagebuchs musste der Niedertracht des nachwirkenden Nationalsozialismus in Deutschland, aber auch anderswo abgerungen werden, das Bild der Anne Frank teilt sich von früh an in zahllose Spiegelbilder“, schreibt er. Spannend und kenntnisreich erzählte er von der Verbreitung des Tagebuchs, vom Entstehen der ersten deutschen Ausgabe, die 1950 im kleinen Heidelberger Verlag Lambert Schneider erschien, der auf jüdische Literatur spezialisiert war, bis hin zur heute weltweit verbindlichen Ausgabe, die 1991 in der Übersetzung von Mirjam Pressler zuerst auf Deutsch auf den Markt kam und die Grundlage für alle weiteren internationalen Ausgaben bildet. „Mirjam Pressler hat die Literazität des Textes erkannt“, lobte Thomas Sparr. Im Laufe der Jahre sei das Tagebuch eher als ein historisches Dokument gelesen worden, aber es sei auch ein ungewöhnliches literarisches Werk. „Es ist keine historische Quelle im landläufigen Sinn, sondern ein Entwicklungsroman, Familienchronik und Liebesgeschichte in einem.“ Anne Frank, die sich eine Karriere als Schriftstellerin erträumte, hat ihren Text selbst überarbeitet. „Ich will fortleben auch nach meinem Tod“, der Satz, den sie in ihr Buch schrieb, habe sich bewahrheitet, sagte Sparr und zitierte Salman Rushdie: „Die Worte sind immer Sieger.“
Nach einer Stunde war das Gespräch beendet, aber die zahlreichen Gäste hätten Thomas Sparr gerne viel länger zugehört. „Wir haben einen guten Eindruck bekommen. Jetzt müssen Sie das Buch noch lesen“, sagte Achim Bonte und übergab das Mikrofon an den Tenor Rolando Guy, der den Abend mit einem hebräischen Lied beendete.
Für alle, die gestern nicht dabei sein konnten: Am 1. November findet die Frankfurter Buchpremiere in der Deutsche Nationalbibliothek statt.
ml