Seit dem 6. Dezember (Nikolaustag) fragen wir wieder bis zum 6. Januar 2022 (Heilige Drei Könige) in der Buchbranche herum: „Wie war Ihr Jahr?“. Heute beantwortet die Schriftstellerin und Journalistin Nina George unseren „anderen“ Fragebogen:

Welcher Tag war Ihr schönster in diesem Jahr?
Man sollte den Zettel hier nicht ausfüllen, während man sich gerade wie rückwärts durch die Hecke gezogen fühlt, nach einem Jahr, das ich ungefähr so beschriebe: Grzmpfhgnarf. Aber: Es gab viele aufregende, sehr schöne Tage – das erste Mal nach achtzehn Monaten Videocalls die Schwester in einem Hotelfoyer in Madrid wieder zu sehen und Hausverbot vor lauter Glücks-Krakehl zu erhalten. Das erste Mal das Cover unseres Kinderbuches „Stinknormal ist anders“ von Jens J. Kramer und mir in der Hand zu halten und sich gewahr zu werden: ICH BIN KINDERBUCHMAMA! Ein Brieflein von der Berliner Senatskanzlei zu öffnen, mit einem fiesen Knöllchen rechnen, aber stattdessen erfahren, dass mir demnächst so ein Dings verliehen wird, na, wie heißt das … fällt mir wieder ein. Am Meer zu sein und zu wissen: das Leben ist endlich, aber jetzt bin ich noch hier und kann die See riechen, die Sterne funkeln sehen – und es ist noch Wein da, Herrschaften!
Worüber haben Sie sich 2021 am meisten geärgert?
Über die Verachtung gegenüber selbständigen Kulturschaffenden, seitens Politik, als auch seitens Teilen der Gesellschaft und öffentlicher Institutionen. Das ist ein sehr deutscher Dünkel, die berufsmäßigen Denkerinnen und Denker als Lebenskünschtler abzuwerten. Wir haben eine echte Wahrnehmungskrise gegenüber Soloselbständigen, und die wird mit einer Kanzlerin Scholz auch nicht besser, sondern verstetigt werden.
Was war 2021 Ihr schönster Erfolg?
Großartige Menschen für den Vorstand des European Writers‘ Council begeistern zu können. Und bisher keinen von ihnen im Ehrenamtswahnsinn verloren zu haben.
Und Ihr traurigster Misserfolg war…?
Nicht breitflächig, außer einige sehr Unermüdliche, davon überzeugen zu können, dass sich in Belarus gerade ein narzisstischer Faschist an der Literatur- und Kulturszene austobt, und sie wirklich alle unsere Hilfe brauchen. Politisch, literarisch, menschlich.
Ihre schönste Buchhandlung /Ihr liebster Verlag in diesem Jahr?
Die „Librairie Dialogues“ in Brest in der Bretagne – als sie wieder öffnete, wurde sie von ganzen Legionen Bretonen gestürmt! Es gibt dort eine übersichtliche deutschsprachige Abteilung, etwa ein Billyregal hoch, und ich habe sie logischerweise leer gekauft. Das kommt an einen „glücklichsten Tag“ schon recht nah heran.
Von welchem Thema wollen Sie (warum) im kommenden Jahr nichts mehr lesen?
Was man nicht lesen will, einfach nicht lesen. Auch wenn’s noch so sehr kribbelt, Doomscrolling zu betreiben. Just don’t.
Und über welches Thema wollen Sie mehr lesen?
Wer für die Finanzierung von Teilhabe, Bildung und Kultur zuständig ist, und auf wessen Rücken dies bisher geschieht.
Welchen Fehler aus diesem Jahr möchten Sie im kommenden Jahr vermeiden?
Zu viel bräsig vor dem Rechner mopsig zu werden, statt über Hecken zu springen.
Und welchen Fehler werden Sie trotzdem wiederholen?
Ja.
Welches Buch hat Ihnen in diesem Jahr besonders viel Freude gemacht?
Es ist nicht nur ein Buch, sondern das gesamte Portfolio einer Autorin – der israelischen Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen. „Eine Nacht, Markowitz“ in der Übersetzung von Ruth Achlama hat für mich persönlich alles, was ein Buch braucht: Sprachschönheit, Sog, und viel sonderbare Ereignisse. Entdeckt habe ich Gundar-Goshen durch „Wo der Wolf lauert“, das im Juli 2021 erschien. Ich durfte es schon vor dem Erscheinen lesen und habe mich schwer verliebt in diese Stimme. Was für eine Kraft, was für ein Handwerk, was für ein Ansporn für mich selbst.
Welches wird Ihr wichtigstes Buch im neuen Jahr?
Mein Manuskript zum Nachfolgeband des „Das Lavendelzimmer“. Zehn Jahre danach – und immer noch wird es um Bücher, um Liebe, um Verlust und Wandel, Freundschaft und das gehen, was in der Intimität zweier Menschen alles geschieht. Das Bücherschiff kehrt zurück an die Seine, aber noch habe ich mindestens 200 Seiten vor mir, bevor der letzte Punkt gesetzt ist…
Von wem würden Sie gern auch mal die Antworten auf diesen Fragebogen lesen?
Von Jean Perdu, Buchhändler und Literarischer Pharmazeut. Oder überhaupt mal von literarischen Charakteren.
Und welche Frage, die wir nicht gestellt haben, hätten Sie gern beantwortet?
Hat die Pandemie irgendeine gute Seite?
Hier können Sie die auch beantworten:
Ja. Wir haben begriffen, dass digital keine (Er)Lösung ist, und wir es brauchen, einander nah zu sein, einander zu bedingen, einander zu berühren.
Gestern beantwortete Christine Paxmann unseren „anderen“ Fragebogen, morgen fragen wir Bernhard S. Elias