An dieser Stelle schreibt Literaturagent und Autor Thomas Montasser regelmäßig über Absonderlichkeiten des Literaturbetriebs. Diesmal beschäftigt ihn die Ankündigung von Media Control den Verlagen ein Bestseller-Orakel zur Verfügung zu stellen:
Eine goldene Regel des Buchhandels besagt: Ein gutes Buch ist ein gut verkauftes Buch. Da ist was dran, wenn man mal den ökonomischen Aspekt des Büchermachens und Bücherverkaufens ins Zentrum der Betrachtung rückt. Stellt man dabei die Linse ein wenig weiter, erkennt man rasch: Viele vielleicht nicht ganz so gute, aber doch gut verkaufte Bücher ermöglichen es erst, auch viele gute Bücher zu machen. Denn irgendwoher muss das Geld dafür ja auch kommen – aus den Verkäufen kommt es oftmals nicht.
Da könnte Anlass zu Hoffnung eine Meldung geben, die dieser Tage den Finanzchefs der Verlagshäuser Freudentränen in die Augen treibt: Media Control, der Laden, der seit Jahrzehnten die Verkaufszahlen von Büchern erhebt und auswertet (und damit z.B. die Bestsellerlisten möglich macht), bietet ab kommendem Jahr eine neue Funktion an, ein „Tool“, mit dem Verlage sozusagen aus dem Zeitalter der Alchimie ins Zeitalter der Chemie katapultiert werden. „DemandSens“ soll es heißen, das Wunderwerk der Datenauswertung, und nicht weniger als die zuverlässige Vorhersage von Bestsellern ermöglichen.
Bisher ist das Angebot von Media Control vor allem dazu gedacht gewesen, eine genaue Bedarfsplanung zu ermöglichen. Gute Sache. Man druckt nicht mehr 100.000 Exemplare, wenn es nur 2.000 Vormerker gibt. Wer wäre darauf gekommen. Und man richtet die Logistik so ein, dass die Bücher dorthin geliefert werden, wo sie auch gekauft werden, das weiß die Maschine offenbar schon vorher. Das ist resourcenschonend und ökonomisch sinnvoll. Aber jetzt geht das Datensammelunternehmen weiter! Mit einer Genauigkeit von angeblich 85-99 Prozent werden Verlage zukünftig in die Lage versetzt, zu beurteilen, ob ein Manuskript das Zeug zum Bestseller hat oder nicht.
Hexerei? Mitnichten! Die Maschine ist schlau. Und sie weiß viel. Sie weiß genau, welche Titel gut funktioniert haben, welche Inhalte, welche Genres, welche Cover, welche Autorenmarken … Für die Vergangenheit. Aus der schließt sie dann auf die Zukunft. Um das zu veranschaulichen ein Beispiel aus einer anderen Disziplin, sagen wir Geschichte: Da gibt es ein kleines Kaff in Mittelitalien. Sumpfige Gegend, ein Mückenparadies. Aber ehrgeizige Bewohner. Die machen sich erst einmal daran, die anderen Bewohner der Gegend zu massakrieren und ihre Kultur beiseite zu schieben. So werden die Römer auf einmal einflussreicher und ehrgeiziger als die Etrusker. Eindrucksvoll. Auch, wie sie expandieren. Rücksicht auf andere Völker? Iwo. Die braucht man, um die Kassen zu füllen. Halb Europa wird versklavt, die Römer erobern einen Stamm nach dem anderen, Landstrich um Landstrich. Füttern wir mal DemandSens mit den Daten. Mal gucken, was die Maschine so sagt.
Ergebnis in 1,3 Sekunden, bravo. Aha, Rom geht es blendend, auch der Rest der Welt ist jetzt Rom! Denn DemandSens weiß, dass die Römer praktisch immer gewinnen und praktisch alle unterwerfen. Die Erfolgsgeschichte wird also fortgeschrieben. Weshalb wir heute alle Alte Römer sind.
Sind wir nicht? Dann muss irgendwas schiefgelaufen sein. Nur was?
Eine Maschine, die nur in die Vergangenheit blicken kann, wird auf kurze Frist in der Lage sein, die Zukunft vorherzusagen. Sie wird sogar dazu beitragen, diese Zukunft mitzugestalten! Aber auf lange Sicht wird sie falsch liegen. Denn sie kann eben nicht hellsehen. Was in früheren Jahrhunderten menschliche Unzulänglichkeiten, Naturkatastrophen oder neueste Waffentechnik waren, greift auf dem Buchmarkt in Form von Geniestreichen des Menschlichen in die Speichen der Bestsellerschmiede. Vorausgesetzt, man lässt Geniestreiche noch zu. Der Geniestreich, also das völlig unerwartete Werk, das zum Überraschungsbestseller wird, wäre – um im obigen Bild zu bleiben – das gute im Verhältnis zum gut verkauften Buch.
Stellt sich nur die Frage, ob die Controller in den Verlagen Bücher, die nicht das DemandSens-Siegel „Bestsellergarantie“ bekommen, überhaupt noch zulassen. Ist das nicht mehr der Fall, dann könnte die normative Kraft der Maschine die Geschicke der Literaturgeschichte so gravierend beeinflussen, dass der Römervergleich nicht mehr funktioniert. Wäre nicht so schlimm? Sie lieben Rom? Ich auch. Aber ich wäre trotzdem nicht gerne Sklave.
Deshalb, liebe Verlagsleute: Sagt niemals nie! Wenn die Maschine einen schlechten Score gibt, lieber trotzdem schauen, ob nicht vielleicht ein gutes Buch dahintersteckt. Es könnte der Geniestreich sein, mit dem Ihr der Literaturgeschichte eine Nasenspitze voraus seid. Und falls die Literaturgeschichte einen Sinn für Pointen hat, wird’s am Ende sogar noch ein gutverkauftes Buch!