Oder auch: „Ein Mann namens Neugier. Klaus Fricke geht in Rente. Echt jetzt?“
„Und? Was hast du vor, wenn du in den Ruhestand gehst?“
„Na, Ruhestand eben.“
„Du wirst doch nicht heimgehen und Däumchen drehen, oder?“
„Ach, ich lass es mal auf mich zukommen.“
„Im Ernst jetzt, du hast doch sicher jede Menge Angebote. Wahrscheinlich willst du bloß nicht drüber sprechen.“
„Nein, im Ernst, ich gehe in Rente. Das ist alles.“
Der das sagt, ist niemand geringerer als die Legende unter den Sachbuchmachern dieser Republik. Klaus Fricke. Ich kanns nicht glauben. Und dann wieder doch. Irgendwie passt das auch zu ihm. Die simple Frage „Ist er denn nicht neugierig?“ beantwortet sich bei ihm wie folgt: Absolut! Aber man kann eben auch auf andere Dinge neugierig sein, als auf Bücher. Wenn das einer kann, dann Klaus Fricke. Denn Neugier ist sein Markenzeichen, sein zweiter Vorname, wahrscheinlich besteht er zu 95 Prozent daraus. Das merkt man nicht zuletzt daran, wie vollkommen unberechenbar sein Werk erscheint.
Klaus Fricke hat alles verlegt: Kanzler und Killer, Waldhüter und Torhüter, Täter, Opfer, Ermittler, Asketen und Hedonisten, Frauen, Männer und alle, die sonst die Erde bereichern. Vorausgesetzt, sie hatten eine Geschichte – und zwar eine, auf die die Welt gewartet hat. Übrigens schreibe ich absichtlich, er habe sie „verlegt“, obwohl er ja lange Zeit bloß Programmleiter war. Aber das wäre viel zu kurz gedacht.
Bücher erzählen die Welt, sie erklären die Welt und sie erhellen die Welt. Im günstigsten Fall tun sie alles davon. Und im allergünstigsten Fall entdeckte sie dann Klaus Fricke. Denn er hatte mit seinem scheinbar programmlosen Gemischtwarenprogramm bei Heyne jahrzehntelang die perfekte Plattform, um nicht ganz bestimmte Themen von ganz bestimmten Autoren in ganz bestimmte Slots pressen zu müssen. Man ließ ihm einfach die Freiheit, zu machen, was er für gut und wichtig hielt. Das hat sich gelohnt. Denn kaum jemand hat einen so genialen Riecher für interessante Projekte wie er.
Dabei ist Klaus Fricke bis heute ein unfassbar uneitler, zugewandter Zeitgenosse geblieben, der all das Kluge, das er sagte (und er sagt eigentlich immer nur Kluges) unaufgeregt und leise zu Gehör bringt. Mancher muss ja die Stimme erheben, um gehört zu werden. Bei ihm spitzt man die Ohren.
Wir sind uns irgendwann vor der Jahrtausendwende zum ersten Mal über den Weg gelaufen, als ich als Jungagent hie und da ein Projekt bei DroemerKnaur anbot, dem Verlag, bei dem ich ihn kennengelernt habe. Man residierte damals noch im feinen Bogenhausen in einer eindrucksvollen Villa. Es folgte ein Umzug in einen Profanbau in der damaligen Hilblestraße, so hat sich die Verlagslandschaft nun mal verändert. Dort blieb er lange Jahre Sachbuchlektor, scheinbar ohne den Ehrgeiz, dringend die Karriereleiter eilig hochklettern zu müssen. Immerhin hat er auf die Weise einige Nächte der langen Messer überlebt. Bis ihn dann doch das Angebot von RandomHouse gelockt hat, die Programmleitung im Heyne-Sachbuch zu übernehmen. Was für ein Glücksgriff! Es folgte ein Umzug in die ebenso nüchterne Neumarkter Straße (auch wenn das Gebäude deutlich freundlicher ist, zumindest von innen).
Gerne hätte ich gewusst, wie oft ihn andere Häuser mit Geld und einflussreichen Positionen abzuwerben versucht haben. Der Mann mit dem perfekten Riecher bleibt einfach auf seinem Posten und macht Heyne-Bücher, statt ganze Verlagsgruppen mit seinem Talent zu bereichern? Nun, zum Glück hat er das gemacht. Und er hat so nicht nur die ganze Verlagsgruppe, sondern den ganzen Literaturbetrieb bereichert – von Millionen Leserinnen und Lesern mal ganz abgesehen.
Wir haben nach der ersten Begegnung in der feudalen Villa so etwa dreißig Jahre zusammengearbeitet, haben Bücher mit Ex-Geheimagenten gemacht und mit Holocaustüberlebenden, Bücher übers Sterben und über Langlebigkeit, Bücher von Internet-Pionieren und Fernsehpromis. Und immer war es so, dass er den Projekten den richtigen Dreh zu geben verstand. Schlug man mit einem Tusch bei ihm auf, konnte es sein, dass man im Pizzicato nach Hause ging, weil er den perfekten Radar für Potemkinsche Dörfer hatte. Aber manchmal kam man auch mit einer Frage an, einem Thema bloß, einem Autor vielleicht, einem Ansatz, unausgegoren – und er kannte das Rezept, mit dem daraus das perfekte Buch würde.
Nach dreißig Jahren schließlich treffe ich ihn zufällig auf der Frankfurter Buchmesse. Er sitzt im Bistro des Agent Center und guckt sich bei einem Reisgericht an, was sich auf der anderen Seite der Scheibe abspielt (das Übliche: alle nehmen sich wichtig, alle sind im Stress, jeder macht einen auf witzig, gefragt und erfolgreich), wie immer gelassen und mit leisem Lächeln. „Klaus! Das ist aber schön, dass wir uns hier treffen. Deine letzte Messe im Amt …“
„Das passt schon. Hab ja schon ein paar mitgemacht.“
Auf seiner Brust ein Button, gleich unter dem „Penguin Random House Klaus Fricke“-Schild: auslaufmodell (sic.). „Haben mir die Kolleginnen geschenkt.“
„Echt jetzt?“ Ich meine, hey, wie uneinfühlsam kann man sein? „Find ich aber nicht sehr nett.“
„Ooch, die haben das nett gemeint. Und stimmt ja auch.“
Naja, sicher, könnte man sagen: Stimmt ja auch. In zwei Monaten ist es vorbei mit der Verlagsarbeit und der Programmleitung und dem Stress und der Arbeit. Wenn sich einer verdient hat, auch mal morgens auszuschlafen oder (keine Ahnung, lieber Klaus, welche Hobbys Du hast) Fischen zu gehen, dann er. Wahrscheinlich ist sein Ausscheiden für uns viel schlimmer als für ihn. Am schlimmsten freilich ist, dass es tatsächlich stimmt: Er ist ein Auslaufmodell! Je länger ich darüber nachdenke, umso klarer wird es mir: Es gibt nicht mehr viele wie ihn in unserer Branche. Menschen, die sich für alles interessieren können, immer neugierig, immer aufgeschlossen sind, Menschen, die eine unglaublich breite Bildung haben, ohne sie dauernd vor sich her zu tragen, die große Autorität haben, ohne sich wichtig zu nehmen oder in den Mittelpunkt zu stellen. Vielleicht ist auch die Art der Verlegerei, einfach nach Themen und Inhalten zu gehen und interessante Autorinnen und Autoren zu finden, out, wo sich Wahrnehmung und Würdigung immer mehr in Clicks und Followern bemessen.
Lieber Klaus, ich habe sehr viel von Dir gelernt und bin Dir von Herzen dafür dankbar. Dafür und für die vielen Jahre einer guten, partnerschaftlichen, ja fast ein bisschen freundschaftlichen Zusammenarbeit. Es steht Dir zu, Dich zurückzuziehen und uns andere alleine weiterrödeln zu lassen. Aber es rödelt sich mit Sicherheit weitaus schwerer ohne Dich als mit Dir. Du wirst uns hier sehr fehlen. Falls Du’s Dir doch noch überlegst mit der „Anschlussverwendung“, gib Bescheid, ich verhökere Dich mit Freuden meistbietend. Glücklich, wer in der Auktion den Zuschlag bekommt.