In Beliban zu Stolbergs Debütroman Zweistromland (Kanon Verlag) geht es um politischen Mut, qualvolles Vergessen und die gefährliche Reise einer jungen Frau nach Kurdistan. „Dieser Roman ist mir passiert“, sagt die Autorin. Anlass für Fragen:
Worum geht es in Ihrem Roman?
Beliban zu Stolberg: In meinem Roman geht es um Dilan, eine junge Frau, die mit der Vergangenheit und der Gegenwart ringt. Ihre Eltern sind Kurden aus der Türkei, sie ist in Deutschland aufgewachsen. Die Geschichte beginnt, als Dilans Mutter stirbt. Sie kehrt zurück nach Istanbul, wo sie mit ihrem schwedischen Mann lebt und ein Kind erwartet. Sie will weitermachen wie zuvor, doch das erweist sich als unmöglich. Bilder aus der Vergangenheit holen sie ein, und sie spürt, dass sich etwas Grundsätzliches ändern muss. Dilan, die das Schweigen von ihren Eltern gelernt hat, bricht aus. Sie sucht die eigene Geschichte und die der Eltern. Dabei legt sie auch Seiten der eigenen Persönlichkeit frei, die sie nicht kannte. Sie macht eine Veränderung durch und wird zu einem selbstbestimmteren Menschen.
Was motivierte Sie, diesen Roman zu schreiben und diese Geschichte zu erzählen?
Dieser Roman ist mir passiert. 2018 war ich auf einer Recherchereise durch die kurdischen Gebiete der Türkei. Kurz danach begann ich, den Roman zu schreiben. Anfangs wusste ich nicht, dass es ein Roman wird. Ich bin einfach der Geschichte gefolgt, Dilan und die anderen Figuren haben die Erzählung geleitet.
Durch die Augen der Hauptfigur wird einerseits die Geschichte der Türkei und der Stadt Diyarbakır erzählt und andererseits sogar miterlebt. Welche Ereignisse spielen in dem Roman eine entscheidende Rolle?
Der Roman spielt unter anderem im Jahr 2016 in der Türkei, also post Gezi. Die Zeit nach den Gezi-Protesten, die brutal niedergeschlagen wurden, läutete eine neue Phase der Autokratisierung der Türkei ein, dieser Prozess hat sich seitdem beschleunigt und verschlimmert. Nach Gezi begann, was inzwischen Alltag geworden und auch in Deutschland bekannt ist: willkürliche Verhaftung, die Unterdrückung jeglicher Kritik an der Regierung, Zensur und Verstaatlichung der Medien, massive Einschränkungen von persönlichen Freiheiten, Menschenrechtsverletzungen, Korruption; die Regierung benutzte den Staat als Bereicherungsmaschine.
Das nächste Ereignis, das die Türkei meiner Meinung nach massiv beeinflusst hat und auch im Roman vorkommt, ist der Bruch der Waffenruhe zwischen türkischem Militär und kurdischen Jugendtrupps in der Altstadt von Diyarbakır. Diyarbakır liegt im Osten der Türkei, unweit von der syrischen Grenze, und ist die Hauptstadt der Kurd:innen. Im Sommer 2015 besetzten dort kurdische Jugendguerillas Sûr, den alten Teil der Millionenstadt. Sie hoben Gräben aus und errichteten Barrikaden. Sie forderten Autonomie. Blutige Auseinandersetzungen folgten, die bis ins Frühjahr 2016 andauerten. Tausende starben. Dem Bürgerkrieg folgten staatliche Abrisse, dem Status von Sûr als Weltkulturerbe zum Trotz. Eine weitere Zeitebene, die für den Roman ausschlaggebend ist, ist die Militärdiktatur der 1980er Jahre in der Türkei. Einer der schlimmsten Orte dieser Zeit war zweifelsohne das Foltergefängnis von Diyarbakır. Ein Ort, der auch in meinem Roman eine wichtige Rolle spielt.
Sie haben kurdische Wurzeln, sind aber in Deutschland geboren und aufgewachsen. Hat Sie Ihre persönliche Familiengeschichte beim Recherchieren und Schreiben beeinflusst?
Jede Autor:in schöpft aus dem eigenen Leben. Woher auch sonst, wenn nicht aus den eigenen Erfahrungen und Beobachtungen. Dilans Geschichte ist aber nicht meine Geschichte, es ist ihre. Mein Vater ist Kurde aus der Türkei, meine Mutter Deutsche, ich bin weitgehend deutsch sozialisiert worden. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich ein Kind war. Meine Familiengeschichte ist auf beiden Seiten von Umbrüchen, Neuanfängen, Migration, Zerwürfnissen, Widersprüchen geprägt. Ich habe manchmal das Gefühl, meine eigene Herkunft ist wie ein Topf, in den alle möglichen Zutaten geworfen sind. Das ist sicherlich einer der wichtigsten Gründe, wieso ich schreibe – nicht nur „Zweistromland“, sondern ganz allgemein.
Ich denke, die Fiktion, besonders der Roman, ist ein wichtiges Werkzeug, um Geschichte aufzuarbeiten. Für mich bedeutet zu schreiben vor allem, die Welt zu ordnen. Ich schreibe irgendwie immer – sei es Prosa, Drehbuch, Notizen, Tagebucheinträge. Ich glaube, das ist meine Art, Ordnung in eine Welt zu bringen, die ich als extrem komplex, willkürlich und unübersichtlich empfinde. Geschichten bringen die Dinge in einen Zusammenhang, auch indem sie mit Emotionen und Empfindungen arbeiten. Sie machen damit Geschehnisse erfahrbar, die man nicht unmittelbar erlebt und zu denen man keinen Bezug empfindet. Das ist die Kraft des Geschichtenerzählens.